Tigray-Weg zu den Hitsatscamps (2020). Bild: Andrea Grossenbacher

Seit Abiy Ahmeds Amtsantritt als Äthiopiens Ministerpräsident im April 2018 hat das Land markante politische und wirtschaftliche Veränderungen durchlebt. Die Versprechen von Äthiopien als ein geeintes und demokratisches Land liessen grosse Hoffnungen auf friedvollere Zeiten entstehen. Gleichzeitig kommt Unsicherheit auf, denn die Menschen fragen sich, wie der Frieden aussehen könnte, zu welchem Preis es Frieden geben wird und für wen.

Das Friedensabkommen zwischen Eritrea und Äthiopien

Eine der Errungenschaften der laufenden politischen Reform unter Ministerpräsident Abiy Ahmed war das Beenden des zwei Jahrzehnte langen „eingefrorenen Konflikts“ zwischen Eritrea und Äthiopien. Die Unterzeichnung des Friedensabkommens im Juli 2018 brachte Abiy Ahmed landesweite und internationale Anerkennung sowie den Friedensnobelpreis 2019 ein. Nach dem Friedensabkommen wurden die äthiopisch-eritreischen Grenzen im September 2018 geöffnet. Überall auf der Welt dokumentierten die Medien die Freudenszenen der wiedervereinten Familien nach jahrzehntelanger Trennung. Viele sehen in den Bildern dieses historischen Moments den Inbegriff der im Konflikt erlittenen persönlichen Verluste sowie der unmittelbaren Möglichkeiten, die der Frieden mit sich bringt.

Auf die in Grenznähe in Nord-Äthiopien beheimateten Eritreerinnen und Eritreer waren die Auswirkungen des Friedensabkommens im täglichen Leben spürbar und sind es noch immer. Allerdings scheint es, als wären die unmittelbaren Möglichkeiten des Friedens in die Ferne gerückt, denn die Umsetzung des Abkommens in greifbare und dauerhafte Verbesserungen für die Menschen ist nicht gelungen. Für einige gab es sogar gegenteilige Auswirkungen: mehr Unsicherheiten und neue Schwachstellen. Obwohl Äthiopien seit Langem eritreische Flüchtlinge beherbergt und gute Beziehungen mit ihnen pflegt, zeichnet sich bei näherer Betrachtung der aktuellen Situation der eritreischen Flüchtlinge in Äthiopien nach dem Friedensabkommen ab, dass sich ihr Schutz und ihre Sicherheit zunehmend verschlechtert. Um zu verstehen, was dies für den Frieden insgesamt bedeutet, müssen die direkten oder indirekten Auswirkungen des Friedensabkommens auf die eritreischen Flüchtlinge in Äthiopien genauer betrachtet werden.

Die Flüchtlingspolitik in Äthiopien

Äthiopien blickt auf eine lange Geschichte als Aufnahmestaat für Flüchtlinge zurück. Laut UNHCR gewährt Äthiopien derzeit 748’448 registrierten Flüchtlingen und Asylsuchenden Schutz (Stand per 29. Februar 2020). Die Regionen Tigray und Afar beherbergen 139’281 registrierte eritreische Flüchtlinge (Stand per 31. Dezember 2019). Das Land unterzeichnete sowohl die Flüchtlingskonvention von 1951 als auch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 und ratifizierte das Übereinkommen zur Regelung der spezifischen Aspekte der Flüchtlingsprobleme in Afrika. Ausserdem vertritt Äthiopien eine Politik der offenen Tür für Menschen, die Zuflucht im Land suchen, und gewährt Flüchtlingen Zugang zu humanitärer Hilfe und Schutz. In den vergangenen Jahren hat sich die Flüchtlingspolitik im Land von der Bereitstellung von Basisleistungen zu einem fortschrittlicheren und rechtsbasierten System gewandelt. Diese Entwicklung hin zu einer fortschrittlicheren Flüchtlingspolitik führte 2017 zur Verabschiedung des umfassenden Rahmenplans für Flüchtlingshilfmassnahmen (CFFR) – ein bahnbrechendes Rahmenwerk im Flüchtlingsbereich. Damit wurde der Weg für die Umsetzung der neun Zusagen geebnet, die Äthiopien auf dem Gipfeltreffen in New York im September 2016 gemacht hatte, und eine stabile politische Basis sowie Leitlinie für den verbesserten Schutz und die Gewährung von Rechten geschaffen. Äthiopien hat ausserdem den regionalen CFFR-Prozess massgeblich vorangetrieben. Im Januar 2019 wurde die nationale Flüchtlingserklärung überarbeitet und soll Flüchtlingen mehr Unabhängigkeit, besseren Schutz und einen erleichterten Zugang zu lokalen Lösungen zugestehen. Damit ist die Erklärung eine der fortschrittlichsten in Afrika.

Die derzeitigen Umbrüche in der Politik zum Schutz von eritreischen Flüchtlingen laufen nun diesem Trend zuwider. Der Grund dafür ist sehr wahrscheinlich die Annäherung von Äthiopien und Eritrea. Eritreerinnen und Eritreer werden in der Praxis nicht länger unter dem „Prima-facie“-Prinzip anerkannt (Anerkennung aller Mitglieder einer Gruppe als Flüchtlinge). Dementsprechend muss der Flüchtlingsstatus jeder einzelnen Eritreerin und jedes Eritreers individuell geprüft werden. Ausserdem scheint der Prozess für die Berufung auf das Gesetz zum Verlassen der Flüchtlingscamps vereinfacht worden zu sein. Dieses Gesetz erlaubt es eritreischen Flüchtlingen, ausserhalb der Flüchtlingscamps zu leben, wenn sie die finanziellen Mittel dafür aufbringen. Sobald sie ausserhalb des Camps wohnen, haben sie keinen Anspruch mehr auf Flüchtlingshilfe. Auch wenn einige Flüchtlinge dies als gute Gelegenheit betrachten, um bald nach ihrer Ankunft in andere Gebiete Äthiopiens weiterzuziehen, sollte dies unter Berücksichtigung des breiteren Kontextes des Friedensabkommens mit Eritrea hinterfragt werden. Vor dem Hintergrund dessen, dass Eritrea die Anzahl eritreischer Flüchtlinge in Äthiopien reduzieren will, wirft der Zeitpunkt des politischen Umschwungs die Frage nach der Motivation auf: Handelt es sich um einen politischen Schachzug, um das eritreische Regime durch die Verringerung der Anzahl eritreischer Flüchtlinge im Grenzgebiet zufriedenzustellen? Schliesslich kündigten diesen Monat mehrere äthiopische Zeitungen die Schliessung des Flüchtlingscamps Hitsats an. Es ist eines von vier eritreischen Flüchtlingscamps in Nord-Äthiopien mit 18’000 eritreischen Flüchtlingen, die nun in eine unsichere Zukunft blicken. Diese neuen Entwicklungen bringen Unsicherheit und neue Herausforderungen für den Flüchtlingsschutz mit sich. Angesichts der Friedenserklärung zwischen Eritrea und Äthiopien überrascht es jedoch nicht, dass derzeit einige Massnahmen wie etwa die Festlegung des Flüchtlingsstatus eingeleitet werden. Anlass zur Besorgnis liefert allerdings die Möglichkeit, dass die Attraktivität der Region Tigray/Afar für eritreische Flüchtlinge durch mögliche Massnahmen, die den Flüchtlingsschutz verringern, aktiv gemindert werden könnte.

Frieden und Vertreibung

Das Friedensabkommen zwischen Eritrea und Äthiopien wirkte sich durch die rund zwei Monate dauernde Grenzöffnung 2018 direkt auf den Bewegungsumfang aus. In dieser Zeit nutzten viele Menschen die Bewegungsfreiheit über die Grenze hinweg aus persönlichen oder geschäftlichen Gründen. Trotzdem waren nicht alle glücklich über die Situation.

Erstens verursachten die unkontrollierten Grenzübertritte mehr Unsicherheit unter den eritreischen Flüchtlingen in den nord-äthiopischen Flüchtlingscamps, da mit dem Ende des Konflikts nicht zwangsläufig ein politischer Wandel in Eritrea einherging. Die Menschen in den Camps, die vor der eritreischen Regierung geflohen waren, hatten also Angst, eritreische Beamte könnten die offene Grenze nutzen, um in die Camps einzudringen und sie zu einer Rückkehr nach Eritrea zu zwingen. Diese Unsicherheit dauert bis heute an und schürt Misstrauen, Hilflosigkeit und Angst – das könnte sich negativ auf die Beziehungen zwischen und unter Flüchtlingen, nationalen und internationalen Flüchtlingsschutzorganisationen und der Landesregierung von Äthiopien auswirken.

Zweitens führte die Grenzöffnung später dazu, dass Eritrea die Grenze komplett schloss. Die Grenze kann nicht mehr auf legale Weise passiert werden. Ausserdem gibt es im Vergleich zu vorher weniger Anlaufstellen für eritreische Flüchtlinge, um sich in Äthiopien zu registrieren. Dies und die Änderung der „Prima-facie“-Statusanerkennung erschwert es Eritreerinnen und Eritreern, in Äthiopien Zuflucht zu suchen.

Schliesslich hat das Friedensabkommen den Umgang mit eritreischen Flüchtlingen in Äthiopien in eine Richtung verändert, die der Gesamttendenz hin zu einer fortschrittlicheren Flüchtlingspolitik im Land zuwiderläuft. Unter den Flüchtlingen herrscht deswegen grosser Frust, vor allem unter jungen Eritreerinnen und Eritreern, die gut informiert sind und in Bezug auf die von Äthiopien gemachten Zusagen, den Flüchtlingen mehr Rechte zu geben, hohe Erwartungen haben. Folglich könnten die unerfüllten Erwartungen der Flüchtlinge hinsichtlich Äthiopiens Zusagen in Kombination mit der restriktiveren Politik gegenüber eritreischen Flüchtlingen – die scheinbar darauf abzielt, Eritreerinnen und Eritreer davon abzuhalten, nach Äthiopien zu kommen und/oder im Grenzgebiet zu bleiben – zu mehr Frust und Misstrauen führen und die Spannungen zwischen Flüchtlingen, Flüchtlingsorganisationen und der Landesregierung intensivieren. Darüber hinaus haben die Bewohner der Region Tigray in Nord-Äthiopien immer gerne eritreische Flüchtlinge aufgenommen. Hauptsächlich ist der Grund dafür eine gemeinsame Volkszugehörigkeit, Kultur und Sprache. Oft haben Gastgeber- und Flüchtlingsgemeinschaften friedliche Beziehungen aufgebaut, die von beiderseitigem Nutzen sind. Angesichts dieser Tatsache und wenn man sich vor Augen hält, dass zwischen der grössten politischen Partei der Region, der Tigrayan People’s Liberation Front (TPLF), und sowohl der eritreischen als auch äthiopischen Regierung Spannungen herrschen, sollten die möglichen Auswirkungen der Spannungen zwischen den eritreischen Flüchtlingen und der äthiopischen Regierung auf die Beziehung zwischen den Bewohnern der Region Tigray und der Landesregierung bedacht werden.

Die negativen Folgen des Friedensabkommens für einige eritreische Flüchtlinge in Nord-Äthiopien und deren mögliche Auswirkungen wie etwa die Verschärfung der bereits existierenden Spannungen oder die Auslösung neuer Konfliktdynamiken zeigen, wie wichtig und relevant es ist, die Themen Migration und Vertreibung systematisch in Friedensprozesse und die Friedenspolitik zu integrieren. Dies ist ein gewichtiges Argument dafür, die Bemühungen um eine Verknüpfung von Frieden und Migration als Methode für die Konfliktprävention und den Erhalt des Friedens zu verstärken.