TADJIKISTAN: DEZA Projekt Lokale Gouvernanz (2017). Bild: DEZA

«Papier ist geduldig» so heisst es; die Menschen sind es nicht. Die Wirtschaftswissenschaften – und der Teil der Entwicklungswissenschaften, die sich die ökonomische Entwicklung auf die Fahnen schreibt – behaupten eine «exakte Wissenschaft» zu sein und konnten doch Finanzkrisen und das Versagen des Marktes weder vorhersagen, noch die dadurch verursachte Armut, individuelle Unsicherheit, Migration und Konflikte, respektive Fragilität reduzieren.

Markt statt Mensch – Ökonomisierung der Entwicklung

Wie hängt beides zusammen? Die Agende 2030 formuliert in Ziel 16 Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Inklusion als Entwicklungsziel und die Aufforderung die am meisten Benachteiligten zuerst zu fördern. Habermas’ postulierte einmal das Gleichgewicht von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» als grösstes Versprechen des Liberalismus.  Daran anknüpfend ist «Leave no one behind» (LNOB) wohl das Versprechen unserer neo-liberalen, deregulierten Zeit. Das Dogma dieser Zielerreichung heisst, Entwicklung sei vor allem ökonomischer Art und diese, sowie der Frieden, brauchen vor allem finanzielle Ressourcen. Mit dieser «Ökonomisierung» der Entwicklungs- und Friedensarbeit entäussern sich ihre Akteur_innen jedoch ihrer wichtigsten Werkzeuge: Der Arbeit an der sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung und verlieren den Fokus auf den Menschen.

Prozesse der Rechenschaftslegung und Mittelverwendung werden wichtiger als das Analysieren und Intervenieren in Systemen und das Abbilden von Komplexität durch ein Testen von verschiedenen Interventionen. Die von Bnerjee & Dufflo mit dem Nobel Preis für Wirtschaft ausgezeichneten Theorien[1] zur «trail and error» fallen häufig einem auf Risikovermeidung reduziertes Opportunitäten-Risiken-Verständnis oder der Notwendigkeit nach dem Vorzeigen von «schnellen Entwicklungsergebnissen» zum Opfer.

Die Ergebnisse sind nicht selten ein Friedensverständnis, das sich auf die Abwesenheit physischer Gewalt, und ein Entwicklungsverständnis, das sich auf ökonomische Entwicklung beschränkt. Dabei brauchen wir, um den Auftrag der Agenda 2030 – vor allem für Ziel 16 und «LNOB» zu erfüllen, zuerst einen anderen Fokus als den rein ökonomischen und danach eine Politikkohärenz, die die Ressourcen dort generiert, wo sie vorhanden sind.

Freiheit, Gleichheit und Frieden – Wohin fliesst das Geld?

Laut Freedom House ist «Freiheit» in seiner Ausdrucksform der Demokratie seit 13 Jahren rückläufig. 61% der Weltbevölkerung, oder 4.6 Mrd. Menschen leben in autoritären und nur teilweise freien Ländern[2]. Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei der «Gleichheit» ab, die sich in faktischer Ungleichheit perpetuiert: Dem reichsten 1% der Weltbevölkerung gehören gut 20% des globalen Reichtums[3], während den unteren 50% gerade einmal weniger als 10% gehören. Übersetzt man Brüderlichkeit mit Solidarität, so bietet sich ein ebenso trauriges Bild: Die offizielle Entwicklungshilfe (ODA) der OECD Länder lag 2017 bei 147.2 Mrd. USD, was zirka 0.31 % des BIP der Geberländer entsprach.[4] Davon gingen zirka 45% (68 Mrd.) in fragile und von Kriegen und Konflikten betroffene Länder.[5]

Des einen Leid – des anderen Freud: Aus Schulden werden Renditen

Warum sind diese Zahlen alarmierend? Erstens, es fehlt das Geld für den Frieden: ODA ist mit mehr als 72.2 % die Hauptressource der Friedens- und Entwicklungsfinanzierung in diesen Ländern.[6] Zweitens, nicht Frieden sondern Kriegswaffen sind die Priorität: Den weniger als 150 Mrd. ODA im Jahr 2017 standen 2018 1,8 Trilliarden USD, oder 2.1 % des globalen BIP an Rüstungsausgaben gegenüber.[7] Und Drittens: durch Deregulierung und Gesetzeslücken sowie fehlende Staatlichkeit führt sogenannte «legale Steuervermeidung» zu Einnahmeverlusten in Höhe von 7.8 Trilliarden USD (10.4% des globalen BIP).[8] Zu diesen können dann noch weitere 3.6 Trilliarden USD gezählt werden, die Aufgrund von Korruption und Bestechung verloren gehen.[9]

Diese chronische Unterfinanzierung der Friedens- und Entwicklungsarbeit beziffert sich auf 2.5-3 Trillion USD pro Jahr[10], eine Summe die sich durch Rechtsstaatlichkeit und globale Steuergerechtigkeit aufbringen liesse. Anstatt jedoch auf Regulierung zu setzen, setzt man weiter auf den Markt. Dass man mit Schulden Geld verdienen kann, wurde uns seit der Finanzkrise 2008 immer wieder deutlich aufgezeigt. Was seinerzeit faule Kredite waren, sind heute die Kleinkredite für die Ärmsten. Während schon die «Mikro-Kredite» umstritten sind, werden heute aus diesen euphemistisch genannten «social impact bonds»[11] geschnürt, die Anlegern und Anlegerinnen im «Westen» Renditen bis 20 % Prozent versprechen und für die staatliche Entwicklungszusammenarbeit auch noch Ausfallgarantien gibt.

Die Lösungsansätze wären bekannt

Wir befinden uns fast in der Halbzeit zur Verwirklichung der Agenda 2030 und haben doch das Gefühl entweder noch ganz am Anfang zu stehen oder am Ende gar zu versagen. Dabei sind die guten Ansätze für eine friedensbeitragende Entwicklungspolitik bekannt. Erstens müssen wir den Kontext als Startpunkt der Überlegungen nehmen, nach denen wir den Mehrwert der Schweizerischen Friedens- und Entwicklungsarbeit definieren. Wir brauchen keine pfannenfertigen Lösungen, sondern flexibles und menschorientiertes Arbeiten. Zweitens müssen wir die Kultur der Risikovermeidung durch eine Kultur des Lernens ersetzen, die die Komplexität der Systeme und die Irrationalität des Menschen anerkennt. Damit wird dann, Drittens, auch die Erkenntnis einhergehen, dass Frieden und nachhaltige Entwicklung nur möglich ist, wenn diese als Ziel globaler Politikkohärenz steht.

Der vorliegende Artikel reflektiert die Erfahrungen von Nils Rosemann, repräsentiert aber keine offizielle Position der DEZA. Die Meinungsäusserungen sind ausschliesslich solche des Autors und reflektieren weder die offizielle Sichtweise des EDA oder der Bundesverwaltung.

[1] Banerjee, Abhijit V,. Duflo, Esther: Good Economics for hard Times, 2019

[2] Freedomhouse: Democracy on Retreat: https://freedomhouse.org/report/freedom-world/freedom-world-2019/democracy-in-retreat

[3] Bericht zur weltweiten Ungleichheit: https://wir2018.wid.world/files/download/wir2018-summary-german.pdf

[4] OECD Report 2019

[5] OECD State of Fragility Report 2019

[6] OECD State of Fragility Report 2019

[7] Internationale Friedensforschungsinstitut SIPRI in Stockholm im November 2018

[8] TAXATION PAPERS Taxation and Customs Union WORKING PAPER No 76 – 2019 Estimating International Tax Evasion by Individuals

[9] United Nations Secretary-General António Guterres: https://news.un.org/en/story/2018/12/1027971

[10] United Nations: Roadmap for Financing the 2030 Agenda: https://www.un.org/sustainabledevelopment/sg-finance-strategy/

[11] “Finanzflüsse wie ein Wasserfall? Die Finanzialisierung der Entwicklungspolitik» https://www.weltwirtschaft-und-entwicklung.org/wearchiv/042ae6a9f609a1c02/042ae6aa4b0d90c01.php