Feministischer Streik Genf 14. Juni 2019. Bild: Charlotte Hooij

Standard-Konfliktansätze werden durch viele Annahmen untermauert: Die Annahme, dass die Anwendung oder die Androhung von Gewalt die beste Antwort auf Konflikte ist. Dass Männer die “Beschützer” und Frauen die “Opfer” sind. Annahmen darüber, wer die Legitimität und das Recht hat, die Lösungen auszuhandeln und wer von der Zerstörung profitieren kann und soll. Annahmen, die weite Teile der Gesellschaft ausschliessen. Auch der Neoliberalismus wird von einer Fülle von Annahmen gestützt, die grosse Teile der Gesellschaft ausschliessen und entmenschlichen.

Die “Women’s International League for Peace and Freedom” (WILPF) hört Frauen zu und hat dadurch in ihrer langen Geschichte gelernt, dass es bei der transformativen Friedensförderung darum geht, die Strukturen, auf denen diese Annahmen beruhen, in Frage zu stellen. Neoliberale Theorien und Politik scheitern in so genannten friedlichen Kontexten. Diese Misserfolge werden in Konflikt- und Post-Konflikt-Kontexten noch verstärkt, dann, wenn Kooperation und Inklusion wesentlich wären. Es ist ein System der Gier, bei dem die Kriegsherren die Aktionäre sind.

Die Arbeit von WILPF in Konflikt- und Post-Konflikt-Kontexten zeigt, dass die Wirtschaftspolitik, die wir in diesen Kontexten einsetzen, nicht von gelebten und hochgradig geschlechtsspezifischen Kriegserfahrungen und von den neuen, oft komplexeren und sich überschneidenden Bedürfnissen, die sich aus diesem Konflikt ergeben, getrennt werden kann. Die Integration einer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Transformation in eine aus dem Krieg hervorgegangenen Gesellschaft, entscheidet zwischen einem nachhaltig und gerechten Frieden – ein feministischer Frieden – oder einem fragilen Frieden, der das Leben der Menschen und ganzer Gesellschaften ständig in Gefahr bringt.

Die WILPF-Analyse aus Bosnien zeigt die Gefahren eines auf neoliberalen Annahmen beruhenden Friedens (siehe WILPF, 2017). Der Wiederaufbau nach dem Konflikt wurde durch die Annahme untermauert, dass der freie Markt, Deregulierungen und Privatisierungen zu Wachstum und Wohlstand und damit zum Frieden führen würden. Ausgehandelt wurde diese Politik von der korrupten, militarisierten ethno-nationalen politischen Elite, die alles zu gewinnen und nichts zu verlieren hatte. Frauen und andere zivile Gruppen waren ausgeschlossen. Heute, 25 Jahre nach dem Krieg, ist die wirtschaftliche Reformpolitik weiterhin konflikt- und geschlechterblind. Anstatt die Ungleichheiten zu verringern, tragen sie zur Spaltung bei, wodurch strukturelle und geschlechtsspezifische Ungleichheiten und soziale Konflikte verschärft werden.  Ein “nachhaltiger Frieden” räumt den Menschenrechten, insbesondere den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, Vorrang ein. Dies dient nicht nur der Prävention bewaffneter Gewalt, sondern auch einer gelungenen Transformation in den Frieden.

Jahrzehnte des Neoliberalismus und der Sparmassnahmen, parallel zu einer beispiellosen Anhäufung von Reichtum, bei der die reichsten 1% doppelt so viel wie 6,9 Milliarden Menschen besitzen (siehe Oxfam, 2020), haben Konflikte direkt angeheizt, die Fähigkeit der Menschen, ein menschenwürdiges Leben zu führen, in Frage gestellt und den für diese transformative Friedensförderung erforderlichen Raum eingeschränkt.

Strukturelle Ungleichheiten, die den Kern des heutigen Systems bilden, haben Folgen für die Stabilität und den Frieden selbst. Sie sind geschlechts-, klassen- und rassenbedingt voreingenommen. Der ungleiche Zugang und die ungleiche Verteilung von Ressourcen herrscht bereits zu lange. Die Menschen reagieren und handeln. Das sehen wir auf der ganzen Welt, von Chile bis zum Libanon. Die Menschen fordern ihr Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Aber wir sehen auch, dass diesen Forderungen mit Unterdrückung, verstärkter Militarisierung und hartem Vorgehen gegen Demonstranten begegnet wird. Dies zeigt uns, dass das neoliberale System nicht von Patriarchat und Militarismus getrennt werden kann: “Die männliche Dominanz ist eng mit den Klassenunterschieden des Kapitalismus und der rassistischen Dominanz einiger Nationen und ethnischer Gruppen durch andere verbunden. Gemeinsam führen sie den Krieg fort”, fasst das Manifest der WILPF zusammen (siehe WILPF, 2015).

Die neoliberale Politik, die durch das kapitalistische Wirtschaftssystem begründet ist, schürt die Ungleichheit. Die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben, die Privatisierung und die Deregulierung des Marktes sind die neue Normalität (siehe Ortiz und Cummins, 2019). Es herrscht blindes Vertrauen in Unternehmen und andere private Akteure, welche die Lücken schliessen, die von den bröckelnden staatlichen Strukturen hinterlassen wurden. Wir haben von Frauen in Konflikten gelernt, dass die korrupten und ausbeuterischen Wirtschaftssysteme die Hauptursachen für Krieg sind. Krieg wird zu einem grossen Teil durch Profitabilität angeheizt und dies setzt sich in Friedenskonsolidierung fort. Eine politische Ökonomie von Krieg und Frieden muss kritisch analysiert und in Frage gestellt werden. Die feministische politische Ökonomie ist ein mächtiges Instrument, das uns helfen kann, die Welt neu auszumahlen (siehe WILPF 2018).

Als Antwort auf die feministische Kritik von Friedensaktivistinnen und Akademikerinnen an der Geschlechtsblindheit der neoliberalen Politik gab sich der Neoliberalismus kooperativ. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist die neoliberale Erzählung über die wirtschaftliche Ermächtigung von Frauen. In einer Welt, in der 1 % doppelt so viel wie 6,9 Milliarden Menschen hat, ist es egal, ob Frauen unter diesen 1 % gleich stark vertreten sind oder nicht! Ein paar Frauen in die privilegierte Spitzengruppe der Gesellschaft zu bringen, ist nicht das, was Feministinnen meinen, wenn sie von Empowerment und Führung sprechen. Es geht nicht darum, Frauen so zu formen, dass sie in das gegenwärtige System passen. Es geht darum, dieses System zu transformieren, damit wir Gesellschaften der Gerechtigkeit, Gleichheit und entmilitarisierten Sicherheit aufbauen können. Wir alle müssen es wagen, eine Welt “jenseits des Kapitalismus” zu denken.

WILPF-Mitglieder_innen in aller Welt fordern heute, das gegenwärtige System von struktureller Ungleichheit abzubauen und ein neues zu kreieren. Dazu müssen wir Wege finden, um bestehende Wirtschaftsbeziehungen und -praktiken abzulehnen und ihnen zu widerstehen; neue Formen des Eigentums und der Kontrolle über natürliche Ressourcen erfinden; an eine Umverteilung des Reichtums und neue Wege des Wachstums denken. Es wird von uns verlangt, die Beziehung zwischen Wachstum und ökologischer Nachhaltigkeit neu zu überdenken – unter besonderer Berücksichtigung der Rechte der Natur, der Landrechte der Menschen und der Ernährungssouveränität. Dies setzt ein beispielloses kreatives Arbeiten sowie Solidarität über Hemisphären, nationale Grenzen, kulturelle Gruppen, Orte, Klassen und Geschlechter voraus. Ansonsten wird der Frieden niemals in unsere Reichweite geraten.

Einige Lektüren zum Thema: Klein, Naomi, 2007: Die Schockdoktrin: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus; Klein, Naomi, 2014. Das ändert alles: Kapitalismus vs. Klima; Raworth, Kate, 2018. Doughnut Ökonomie: Sieben Wege, wie ein Wirtschaftswissenschaftler des 21. Jahrhunderts zu denken; Fraser, Nancy, 2009. Feminismus, Kapitalismus und die Gerissenheit der Geschichte; Federici, Silvia, 2012. Revolution am Nullpunkt: Hausarbeit, Reproduktion und feministischer Kampf; und True, Jacqui, 2014. Die politische Ökonomie der Gewalt gegen Frauen.