Plaza de la Dignidad in Santiago de Chile, 2019. Bild : Nicole Kramm Caifal

Der Artikel “Von Santiago bis Paris, Menschen auf der Strasse” wurde im Januar 2020 von Serge Halimi in der Zeitung Le Monde Diplomatique veröffentlicht. Der Autor erläutert die Ursachen der jüngsten Protestwellen sowie deren Auswirkungen auf die aktuelle Situation und die Zukunft.

Die Strassen sind nicht leer. Die allgemeine Unzufriedenheit und die daraus entstandenen Demonstrationen (Algerien, Libanon, Ecuador, Frankreich, Chile…) nehmen eine neue Wendung. Wir sind Zeugen und Zeuginnen sehr anspruchsvoller kollektiver, solidarischer und unpolitischer Bewegungen, die bereits einige Früchte getragen haben. Immer repressiver werdende Regierungen bemühen sich, ihre Gegner_innen zum Schweigen zu bringen, die “den Sturz des Regimes wollen”.

Alles begann im Jahr 2010, nach dem ersten tunesischen Aufstand, der den Arabischen Frühling hervorbrachte. Es folgten die “Spanish-Plaza-Bewegung”, die Mobilisierung chilenischer Studenten_innen und die Besetzung der Wall Street, um nur einige zu nennen.

Die Parolen in den vier Ecken der Welt unterscheiden sich, aber sie entstammen demselben Auslöser: Ohnmacht gegenüber dem Wirtschaftsliberalismus, der die sozialen Ungleichheiten vertieft, und gegenüber der herrschenden Oligarchie, die nicht auf die Bedürfnisse der Menschen eingeht und ihre Interessen nicht vertritt. Als Folge sind es die Menschen müde, unter prekären Bedingungen zu leben, die eigenen Rechte (Rente, Bildung, Gesundheit) verstümmelt und die eigene Umwelt entwürdigt zu sehen. Die Ökologie ist ein gutes Beispiel für diese Ohnmacht. Trotz des offensichtlichen politischen guten Willens (der bei den verschiedenen COPs besonders hervorgehoben wurde) konsumieren die Reichsten weiterhin zu viel auf Kosten eines überhitzten Planeten.

Bereits vor mehr als zwanzig Jahren wurde uns “der Tod des Kapitalismus, die Konvergenz der Kämpfe, die Sackgasse der Globalisierung” angekündigt. Dennoch hat sich die neoliberale Politik weiter verbreitet. Der Kern des Problems ist die Korruption, die in verschiedenen Formen zu finden ist: Korruption, die darin besteht, private Interessen zu finanzieren, indem das öffentliche System durch Reformen zerstört wird (mit Kürzungen von Sozialprogrammen, immer teureren öffentlichen Dienstleistungen, der Einrichtung kapitalgedeckter Rentensysteme usw.); Korruption, die durch inzestuöse Beziehungen zwischen Staat und Kapital (der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barrosso, der heute bei der Bank Goldman Sachs beschäftigt ist, zum Beispiel) hervorgehoben wird – Verbindungen, die die Macht der Gegner des etablierten Wirtschaftssystems einschränken.

Halimi stellt Chile, die Wiege des Kapitalismus, als den eigentlichen Beweis für sein Scheitern vor. Seit Oktober letzten Jahres hat ein grosser Teil der chilenischen Bevölkerung trotz des Sturzes von Pinochets totalitärem Regime und des darauf folgenden demokratischen Übergangs sein neoliberales politisches System beklagt: kapitalgedeckte Renten, private Universitäten, eine Autobahn und Wassergebühren. Trotz der Verschärfung der polizeilichen, gerichtlichen und militärischen Repression (die seit Beginn der sozialen Krise 11.000 Verletzte, 200 Verwundete und 26 Tote zur Folge hatte) geht der Aufstand weiter.

Diese Proteste haben zwar nicht zu einer ernsthaften politischen Alternative zum Neoliberalismus geführt, aber können sich dennoch über kleine Siege freuen, die ausreichen, um das Vertrauen “stärkerer” und “würdigerer” Demonstrierender zu stärken: Das Regime von Omar al-Bashir ist im Sudan gestürzt worden, im Libanon und im Irak wurden Premierminister zum Rücktritt gezwungen, genauso wie in Algerien der ehemalige Präsident Bouteflika, und die chilenische Verfassung soll neu geschrieben werden. Gemäss Halimi haben diese Demonstrationen zumindest ermöglicht, “dem Liberalismus nicht mehr die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität zu geben”.