U.S. Marine Corps Sgt. Autumn Sekely beobachtet vorbeigehende Kinder, während einer Patrouille im Bezirk Sangin in der afghanischen Provinz Helmand, 7. Dezember 2011. Wikimedia Commons
swisspeace Dr. Farooq Yousaf Farooq.Yousaf@uon.edu.au Associated researcher

Frieden ist integraler Bestandteil des Diskurses und der Praktiken im Bereich Internationale Beziehungen (IB). Die Definitionen und «Wahrnehmungen» von Frieden unterscheiden sich allerdings – insbesondere im Hinblick auf die materielle und gedankliche Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Es ist wichtig, den Beitrag der westlichen Wissenschaft in Form von diskursiven Friedenskonstruktionen und deren praktischer Anwendung in der Politikgestaltung anzuerkennen. Allerdings ist für jene, die täglich unter Konflikten und Gewalt leiden, die «Realität» des Friedens und der Überlebensdrang viel wichtiger als (westliche) «Wahrnehmungen» und operationelle Definitionen. Auch hinsichtlich des Verständnisses einer Konfliktlösung auf lokaler Ebene besteht eine ideologische Spaltung zwischen globalem Norden und Süden – vor allem in traditionellen Gesellschaften. Ein solcher Fall, bei dem sich in den letzten Jahren deutliche Unterschiede in den Wahrnehmungen und Realitäten von Frieden und Gerechtigkeit gezeigt haben, war Afghanistan.

Im Rahmen des (westlichen) «Friedensförderungsprojekts» in Afghanistan gab es einige positive Vorstösse, etwa zugunsten der Demokratie, der Bildung für alle sowie des Miteinbezugs von Frauen in Gouvernanz- und Entscheidungsprozessen. Infolgedessen fanden in Afghanistan mehrere Wahlen statt und 2015 wurde der erste Nationale Aktionsplan (NAP) zu Frauen, Frieden und Sicherheit (Women, Peace and Security, WPS) verabschiedet, der sich auf die Prinzipien Partizipation, Schutz, Prävention, Hilfsarbeit und Wiederaufbau stützt. Dennoch haben die USA und ihre Koalitionspartner entgegen ihrer eigenen WPS-Strategie aus dem Jahr 2019 Frauen bei den Friedensverhandlungen mit den Taliban ausgeklammert. Letztere schlossen nach der Übernahme Kabuls umgehend alle Frauen von Regierungsfunktionen und Entscheidungsorganen aus. Professorin Shweta Singh sagt zu dieser Situation: «Es ist an der Zeit, die Politik der WPS-Agenda zu überdenken und neu auszurichten – wir sollten uns darauf einigen, dass die gefeierte liberale Agenda zwar auf den richtigen Prinzipien fusst, aber vor Ort in Frage gestellt wird – und das nicht nur im heutigen Afghanistan, sondern in ganz Südasien».[1]

So haben in Afghanistan lokale, einheimische Strukturen – vor allem Dorfräte wie Dschirga (verbreitet in paschtunischen Gebieten) und Schura (in nicht-paschtunischen Gebieten) – oft Vorrang gegenüber westlichen Formen der Rechtsprechung und Konfliktlösung. Mehreren internationalen Forschungsarbeiten und -berichten zufolge haben Afghan:innen mehr Vertrauen in Dschirgas und Schuras als in das (westliche) Gerichtssystem. Obwohl das Vertrauen grösser ist, sind diese beiden Organe weitestgehend Männern vorbehalten und führen zu einem Geschlechterausschluss bei Entscheidungsprozessen. Diese kulturellen Dynamiken ermöglichen es Gruppierungen wie den Taliban in Kombination mit (oftmals ungenauen) religiösen Begründungen, Frauen von Gouvernanz- und Friedensförderungsinstitutionen auszuschliessen. Die Komplexität und Realität (lokaler) traditioneller Rechtsprechungs- und Konfliktlösungsstrukturen lassen vermuten, dass das «Friedensförderungsprojekt» in Afghanistan mit dem Ziel der Implementierung von Modellen, die vor allem auf einem westlichen Verständnis beruhen, trotz positiver Aspekte dazu verurteilt war, auf grosse Hindernisse zu stossen.

Dennoch können aus dem (im Westen als gescheitert wahrgenommenen) Versuch der USA und ihrer Koalitionspartner, «nachhaltigen Frieden» in Afghanistan zu erreichen, einige Erkenntnisse für die Politik und die Friedensförderung gezogen werden:

  • Legitimität ist ein wichtiges Konzept bei der Friedensförderung in fragilen Staaten. Legitimität dient terroristischen und/oder militanten Gruppen, ihre Botschaft und ihren Einfluss zu erweitern. Zivilregierungen wiederum kann sie helfen, Rechtsstaatlichkeit zu etablieren. Deswegen wurde die nach mehreren Wahlen gebildete Zivilregierung sofort untergraben, sobald die Taliban durch das Doha- (Friedens-) Abkommen im Februar 2020 Legitimität erlangt hatten. Zudem wurde jeglicher Fortschritt der WPS-Agenda automatisch zunichte gemacht, denn Frauen wurden grösstenteils von den Friedensgesprächen ausgeschlossen. Ein Friedensförderungsprojekt kann weder in der Theorie noch in der Praxis Erfolg haben, wenn Gruppen, die als Terrorgruppen eingestuft werden und bekanntermassen bereits politische Gewalt angewandt haben, schliesslich durch die USA und ihre Koalitionspartner als gleichberechtigte Interessengruppen anerkannt werden.
  • Politiker:innen müssen sowohl interne als auch externe treibende Kräfte von Konflikten  beachten und angehen, um anhaltenden Frieden zu erreichen. Der Konflikt wurde der afghanischen Bevölkerung seit den 1980er Jahren in vielerlei Hinsicht durch aussenstehende Akteure aufgezwungen. Obwohl es gemeinsame Anstrengungen gab, einige interne Ursachen des Konflikts anzugehen, wurden externe Ursachen wie nichtstaatliche und staatliche Akteure (etwa die Nachbarländer Afghanistans) grösstenteils von den USA und den Koalitionspartnern ignoriert. Darüber hinaus lag der Fokus für die Etablierung des Friedens vor allem auf Grossstädten wie Kabul, wohingegen die ländlichen und abgelegenen Teile entweder umkämpft waren oder unter der Kontrolle der Taliban oder von Warlords standen. Somit wurden mehrschichtige lokale Konflikte, darunter Konflikte um Ressourcen, ethnische Konflikte und Konflikte zwischen Stämmen, wenig beachtet. Daraus resultierte schliesslich das Scheitern des Friedensförderungsprojekts.
  • Jahrzehntelanger Krieg und Instabilität führten zu einer Umformung der afghanischen Bevölkerung, vor allem in den ländlichen und abgelegenen Gebieten: Weithin respektierte Stammesführer und Stammesälteste wurden durch kompromisslose Geistliche und Warlords ersetzt. Durch die Warlords kam die Kriegswirtschaft ins Rollen und hielt sich auch nach dem Einmarsch und der Kontrolle durch die USA und der Koalition. Die profitgierigen Warlords stellten sicher, dass echte innenpolitische Reformen keinen Bestand hatten und nie auf die ländlichen Landesteile ausgedehnt wurden. Ein Friedensförderungsprojekt, in dessen Rahmen man entschieden hatte, «mit den Warlords zu leben» war also immer zum Scheitern verurteilt gewesen.

 

Das (westliche) Friedensförderungsprojekt in Afghanistan hatte einige positive Aspekte, vor allem hinsichtlich Bildung, (einer Form von) Demokratie, freier Medien, der Inklusion in der Gouvernanz und mehr Berufsmöglichkeiten für Frauen. Dennoch war das von den USA und der Koalition unterstützte Friedensförderungsprojekt mit dem Ziel des dauerhaften «Friedens» in Afghanistan laut westlichen Wissenschaftler:innen aufgrund der unterschiedlichen «Wahrnehmungen» und «Realitäten» des Friedens von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

[1] Shewta Singh (2021). Twitter. Aufgerufen am 18. September 2021, über https://twitter.com/shwets_singh/status/1438850080354697226

swisspeace Dr. Farooq Yousaf Farooq.Yousaf@uon.edu.au Associated researcher