N° 160
April 2019
Ausschnitt des Videos «Perspektiven für Jugendliche» von terre des hommes schweiz

Im Jahr 2016 lebten schätzungsweise 408 Millionen Jugendliche (15-29 Jahre) in einem von bewaffneten Konflikten oder organisierter Gewalt betroffenen Umfeld. Das bedeutet, dass mindestens jede_r vierte Jugendliche in irgendeiner Weise von Gewalt oder bewaffneten Konflikten betroffen ist. Schätzungen über direkte Konflikttode im Jahr 2015 deuten darauf hin, dass mehr als 90 Prozent aller Opfer junge Männer waren.

Im Jahr 2018 veröffentlichte die UNO eine detaillierte Studie zum Thema Jugend, Frieden und Sicherheit: «The Missing Peace: Independent Progress Study on Youth, Peace and Security». Dieser Bericht, der auf einer umfassenden partizipativen Studie basiert, betont die Bedeutung der Überwindung einseitiger Stereotypen von Jugendlichen als Sicherheitsrisiken. Sie empfiehlt, das große und oft unterschätzte Potenzial junger Menschen als Friedensförderer_innen zu erkennen.

Diese Erkenntnis bestätigt die Interventionsstrategie von terre des hommes schweiz in ihrem Programm zu Jugend und Gewalt in Lateinamerika. In Lateinamerika machen junge Männer im Alter von 15-29 Jahren 50% aller Mordopfer aus. Diese hohe Mordrate lässt sich durch die Beteiligung junger Männer an risikoreichen illegalen Aktivitäten wie Straßenkriminalität, Bandenmitgliedschaft, Drogenkonsum und leicht zugänglichen Schusswaffen erklären.

Stigmatisierung und negative Stereotypisierung von Jugendlichen

In vielen Ländern konzentrieren sich der öffentliche Diskurs und vor allem die Medien auf das Sicherheitsrisiko von Jugendlichen in der Gesellschaft. Insbesondere in Mittelamerika, aber auch in anderen Teilen Lateinamerikas, nimmt die Gesellschaft Gruppen von Jugendlichen und bis zu einem gewissen Grad auch die ganze jüngere Generation als Bedrohung für die öffentliche Sicherheit wahr. Die Mitglieder von Jugendbanden (so genannte Maras) gelten sogar als grösstes Sicherheitsrisiko der Region. In vielen lateinamerikanischen Ländern nutzen Regierungen und politische Führungskräfte systematisch die Angst vor Jugendgewalt für politische Zwecke. Vor allem im Wahlkampf verstärken Politiker_innen diese Stereotypen gegenüber gewalttätigen Jugendlichen manipulativ, um sich als «mano dura» (harte Hand) zu profilieren. Die reisserische Medienberichterstattung stärkt diesen öffentlichen Diskurs. Harte Strafverfolgungs- und Sicherheitsansätze werden in verschiedenen Ländern breit angewandt, obwohl es immer mehr Beweise dafür gibt, dass harte Strafen und Massenverhaftungen kontraproduktiv sind. Diese Massnahmen sind auch nicht kosteneffizient und lenken die Mittel von den Sozialdiensten ab, die notwendig sind, um die Ursachen der Gewalt zu bekämpfen.

Laut den konsultierten Jugendlichen der UN-Studie führen Sorgen um Jugend und Gewalt zu politischen Reaktionen, welche die legitime Beteiligung der Jugend an politischen Prozessen, sozialen Bewegungen, friedlichen Protesten und Debatten verunglimpfen und unterdrücken. Die extrem gewaltsame Unterdrückung der Massenproteste junger Menschen in Nicaragua im Jahr 2018 war das jüngste und offensichtlichste Beispiel dafür, wie politische Beteiligung von Jugendlichen verhindert wird und sie als «Terroristen» abgestempelt werden.

Aktivismus von Jugendlichen für positiven Frieden

Terre des hommes schweiz möchte mit ihrem Gewaltpräventionsprogramm zu einer kritischen Hinterfragung des vereinfachten Diskurses, der junge Menschen generell als Störenfriede stigmatisieren und Jugendliche kategorisch mit Gewalt in Verbindung bringt, beitragen. Die von lokalen, gemeindebasierten Partnerorganisationen durchgeführten Projektmassnahmen stärken die Potenziale und Friedensförderungskapazitäten junger Menschen und belegen ihren positiven Beitrag zur Gesellschaft.

Das Projekt Juventude Negra e Participação Política (Schwarze Jugend und politische Partizipation) der brasilianischen Partnerorganisation Cipó ist ein Vorzeigebeispiel, wie Ansätze der Jugendpartizipation zur sozialen Integration und damit zur Gewaltprävention beitragen. In Favelas in Salvador (Bahia) bildet Cipó afrobrasilianische Jugendmultiplikatoren aus, die in verschiedenen Jugendgruppen aktiv sind. Mit einem intensiven Führungstraining werden marginalisierte Jugendliche, in von hoher Gewalt und Ausgrenzung geprägten Gemeinschaften, zu Akteuren des Wandels.

Junge schwarze Männer sehen sich oft mit sehr negativen Stereotypen, die sie als potenzielle Sicherheitsrisiken abstempeln, konfrontiert. Vor allem Polizisten_innen begegnen ihnen misstrauisch, weil sie schwarz und arm sind. Polizeigewalt ist an der Tagesordnung. Folglich fühlen sich diese sozial ausgegrenzten jungen Menschen hoffnungslos, isoliert und machtlos. Die Last der ständigen Diskriminierung macht sie unsicher; oft verinnerlichen sie diese Ausgrenzung in ihrem Selbstbild.

Aus diesem Grund entwickelte das Projekt ein umfassendes Führungstraining, das marginalisierte Jugendliche befähigt, sich für ihre Rechte einzusetzen. Ziel dieses Trainings ist es, die jungen Favela-Jugendlichen zu sensibilisieren, damit sie die bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien, die historischen Wurzeln von Rassismus und sozialer Ausgrenzung und die Konzepte von struktureller und institutioneller Gewalt verstehen. Dieses Training bildet die Grundlage für die Entwicklung von Wissen und Fähigkeiten und fördert das Interesse und die Motivation der Jugendlichen, sich als Akteure des Wandels zu organisieren.

In einem ersten Schritt konzentriert sich der Gruppenprozess auf die Persönlichkeitsentwicklung, die das Selbstverständnis und den Selbstwert fördert. Dies geschieht anhand von Gruppendiskussionen über die schwarze Identität und affirmativem Handeln durch künstlerische und kulturelle Aktivitäten.

Neben den Ergebnissen im Zusammenhang mit der Stärkung der kulturellen und persönlichen Identität legt das Training auch grossen Wert auf die Verbesserung der kommunikativen und technischen Fähigkeiten der jungen Führungspersönlichkeiten. Das Medientraining (Video, Schreiben, Fotografie und Online-Kommunikation) befähigt sie, sich bei einem breiten Publikum Gehör zu verschaffen. Im Training lernen sie auch, wie sie ihre Rechte politisch geltend machen und der Ungerechtigkeit, die sie täglich erleben, entgegenwirken können.

Insgesamt verbessert das Führungstraining die Leitungs- und Kommunikationsfähigkeiten, die Selbstreflexion und die kulturelle Identität der Teilnehmenden. Dies ist die Grundlage dafür, dass die jungen Akteure des Wandels in ihren Gemeinschaften aktiv werden und ihre Erkenntnisse unter Gleichaltrigen und in der breiteren Gemeinschaft teilen. Jugendliche, die sich an Gemeinschaftsaktivitäten beteiligen, werden zu Vorbildern für andere Jugendliche. Da ihre kulturellen Aktivitäten viel Aufmerksamkeit erregen, ändert die gesamte Gemeinschaft auch ihre Ansichten über Jugend-Aktivismus. Durch Musik, Theater und Tanz drücken die jungen Aktivist_innen ihre positive Widerstandsfähigkeit aus.

Aufgrund der besseren Sichtbarkeit der Anliegen junger Menschen in der Öffentlichkeit beginnen die Politiker_innen, die Stimmen junger Menschen zu hören. Jugendliche sind eingeladen, an Entscheidungsprozessen auf lokaler Ebene, z.B. in lokalen Jugendräten, teilzunehmen. Durch aktive politische Partizipation und Vernetzung werden organisierte Jugendliche als relevante politische Akteure in der Entwicklung von Gewaltpräventionspolitik erkannt. Die Jugend wird ernst genommen. Dadurch werden die Debatten über die Politik der Gewaltprävention jugendgerechter.

Diese politischen Empowerment- und Sensibilisierungsaspekte des Projekts bestehen aus drei Ebenen:

– «Power within» bedeutet, mit armen und ausgegrenzten Jugendlichen und ihren Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, um sie für ihre Rechte zu sensibilisieren und ihre Fähigkeit zu stärken, gemeinsam zu analysieren, wie ihre Rechte verweigert werden. (Bewusstseinsbildung)

– «Power with» konzentriert sich auf den Aufbau von Solidarität unter jungen Rechteinhabern_innen durch Bündnis- und Plattformbildung (Jugendgruppen), Mobilisierung von Unterstützern und Networking. (Mobilisierung für Kollektivmassnahmen)

– «Power to» zielt darauf ab, die Fähigkeit junger Rechteinhabern_innen zu politischem Engagement zu verbessern und sich effektiv für Veränderungen in Politik und Praxis einzusetzen (Teilnahme an politischen Prozessen, an Beiräten, Jugendforen und Parlamentsanhörungen).

Durch die Arbeit auf diesen verschiedenen Ebenen erkennt und fördert terre des hommes schweiz das grosse Potenzial junger Menschen für den Aufbau friedlicher und inklusiver Gesellschaften. Partnerorganisationen identifizieren aussergewöhnliche junge Menschen, die nach innovativen Wegen suchen, um Gewalt zu verhindern und den Frieden in einem Kontext zunehmender sozialer Polarisierung zu festigen.