Frauenschutzteams bei einem Sicherheitstreffen in Bentiu, Südsudan, Februar 2021. Nonviolent Peaceforce
Interview mit Tiffany Easthom teasthom@nonviolentpeaceforce.org Exekutivdirektorin, Nonviolent Peaceforce Interviewerin Sanjally Jobarteh Communication Officer, KOFF/swisspeace

Interview mit Tiffany Easthom, Geschäftsführerin Nonviolent Peaceforce (NP)

Wie würden Sie die Identitäten und Positionalitäten von NP beschreiben?

NP definiert Sicherheit und Zivilschutz in den am stärksten von Konflikten betroffenen Gebieten neu, indem wir zusammen mit den Gemeinschaften an der Unterbrechung und Verhinderung von Gewalt arbeiten. Dank unseres zukunftsgerichteten, sehr anpassungsfähigen Modells können wir sowohl im humanitären Bereich als auch in der Friedensförderung tätig sein und so zu guten Entwicklungsvoraussetzungen beitragen.

In den vergangenen 20 Jahren haben wir immer wieder reflektiert, was die Identität von NP ausmacht, insbesondere unsere Identität als werteorientierte Organisation, denn wir setzen uns dafür ein, dass unsere Werte gelebt und weiterentwickelt werden, während wir dazulernen und sich die Welt um uns verändert.

Das heisst auch, sich intensiv mit Positionalität auseinanderzusetzen. NP wurde hauptsächlich als Friedensorganisation gegründet. Mit der Zeit kamen humanitäre Elemente hinzu, da sich unser Programm zunehmend mit den Schutzbedürfnissen in akuten Krisen und langwierigen Konflikten befasste.

Ehrlichkeit uns selbst gegenüber ist im Hinblick auf bestimmte Aspekte unserer humanitären Identität seit jeher wichtig für uns. Zwar spricht vieles dafür, in Koordination, Mindeststandards, Rechenschaftspflicht usw. zu investieren, der Nachteil ist jedoch, dass ein Top-down-Ansatz und ein komplexes System die zuverlässige Partizipation vor Ort erschweren. Dies kann dazu führen, dass wir die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen dem globalen Norden und Süden ungewollt replizieren.

Wie wir festgestellt haben, ist es für uns als Organisation wesentlich, dass wir uns zu Weiterentwicklung und Innovation anspornen, damit wir mit einem feministischen Managementansatz kooperativ und inklusiv arbeiten können. Wir bemühen uns, über das hinauszugehen, was wir jahrelang als das Primat der lokalen Akteure anerkannt haben, denn wir wollen die am meisten von Gewalt Betroffenen bei allen Aspekten unserer Tätigkeit radikal in den Mittelpunkt stellen.

Wie fliesst dieser zentrale Wert in Ihr operatives Modell ein?

Alle Organisationen für Entwicklung, humanitäre Hilfe oder Friedensförderung sagen vermutlich, dass sie mit Gemeinschaften zusammenarbeiten, aber die Spanne ist sehr gross und alle definieren «Zusammenarbeit» völlig unterschiedlich. Das müssen wir uns aufrichtig eingestehen. Die Zusammenarbeit gelingt uns mal mehr, mal weniger gut. Für NP wird die Operationalisierung dieses zentralen Werts – nämlich uns auf die am stärksten von Gewalt Betroffenen zu konzentrieren – vorwiegend durch unser Programm ermöglicht, das in direktem Handeln verankert ist, weil wir in den Gemeinschaften, die wir unterstützen, leben und arbeiten. Die grundlegende Basis unseres Schaffens ist der Aufbau von Beziehungen, damit wir die lokalen Bedürfnisse, die Erwartungen an den Frieden und die verschiedenen Positionalitäten und Identitäten aller Interessensgruppen umfassend verstehen. Wir bauen Räume für Vertrauen und beiderseitiges Engagement auf, versuchen gemeinsame Interessen zu finden und wenden bewährte Praktiken an. Dabei achten wir auf ein gewisses Mass an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, um lokale Ressourcen umsichtig und nachhaltig zu fördern.

Wie ist das Verhältnis aus entsandten und lokalen Mitarbeitenden?

Unsere Teams bestehen je nach Bedarf aus Ortskräften und Expat-Personal. Natürlich kann nicht einfach irgendjemand in ein Land entsandt werden und sich anmassen, dort Friedensförderung für andere zu betreiben. Die Menschen, die in diesem Frieden leben und ihn bewahren sollen, müssen etwas schaffen, das für sie funktioniert. Bei der Ermittlung des Anteils von entsandten bzw. lokalen Mitarbeitenden richten wir uns deshalb weitgehend nach dem Kontext und vor allem nach der Konfliktphase. In Situationen akuter Gewalt kann die Anwesenheit von Aussenstehenden abschreckend wirken. Sie können Missbrauchs- oder Gewaltmuster durchbrechen oder verändern, da sie nicht direkt am Konflikt beteiligt sind. Sie fungieren als «Augen» einer grösseren Gemeinschaft, die um die Sicherheit und das Wohlergehen der gefährdeten Menschen besorgt ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Entsandten aus dem globalen Norden stammen oder eine weisse Hautfarbe haben müssen. Glücklicherweise richtet sich die Praxis im unbewaffneten Zivilschutz (UCP) längst nicht mehr nach der Staatsangehörigkeit. Expats müssen nicht über einen Pass einer Weltmacht verfügen. Allein die Tatsache, dass sie nicht aus dem unmittelbaren Gebiet stammen, kann schon eine Veränderung bewirken.

Durch die Analyse, in welchen Kontexten die Anwesenheit von Ausländer:innen erforderlich ist, finden wir die richtige Team-Zusammensetzung. Erweist es sich als nützlich, entsenden wir Verstärkung in das Team. Umgekehrt können wir das Team jedoch auch so gestalten, dass es mehrheitlich oder vollständig aus Einheimischen besteht, wenn es bei der Unterstützung der betreffenden Gemeinschaft einen besonderen Mehrwert bietet.

Auf den Philippinen sind wir beispielsweise seit 2006 aktiv. Hier ist die Anwesenheit von Aussenstehenden im Moment nicht erforderlich, was jedoch nicht immer so war. Als 2008 der Waffenstillstand in Mindanao gebrochen wurde, entfachte erneut ein aktiver Konflikt. Da unsere Ortskräfte zu diesem Zeitpunkt einem erhöhten Gewaltrisiko ausgesetzt waren, umfasste das Team mehrere Expats. Heute, im Jahr 2022, nach grossen Fortschritten bei der Umsetzung des Friedens, besteht das Team ausschliesslich aus einheimischem Personal.

Als im Südsudan Krieg ausbrach, wurden Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft angegriffen. Obwohl sie sich klar für Frieden und Schutz einsetzten, war es für unsere lokalen Mitarbeitenden schwieriger, als unparteiisch wahrgenommen zu werden – eines der wichtigsten Prinzipien unserer Arbeit. Die Aufstockung der Expat-Mitarbeitenden verbesserte die Sicherheit durch Abschreckung und stärkte die Neutralität und Unparteilichkeit.

Bilden Sie die Mitarbeitenden aus, bevor Sie sie ins Ausland entsenden? Wenn ja, wie?

Unsere lokalen und internationalen Mitarbeitenden werden gemeinsam ausgebildet. Wir sind überzeugt, dass dies unsere gemeinschaftliche Organisationskultur fördert. Selbstverständlich geben wir Expats zusätzliche Informationen, Hausaufgaben und Aufträge zu Kontextstudien, um sie auf den Aufenthalt in dem betreffenden Land vorzubereiten. Vor Ort nehmen sie dann an denselben Bereitschaftsschulungen teil wie die Ortskräfte. Uns ist es wichtig, dass alle – ob in einem Programmteam oder nicht – dieselben Grundlagen zur Organisationsstruktur und zu unseren Werten sowie Basiswissen über UCP erhalten.

Wie gehen Sie mit verschiedenen Positionalitäten und Identitäten Ihrer Mitarbeitenden um, vor allem wenn diese in bestimmten Ländern gefährdet werden können?

Unsere Organisation vertritt die Haltung, dass jede Person so sein darf, wie sie ist. NP soll ein mutiger Ort sein, an dem alle willkommen sind und sich wohlfühlen dürfen. Die Vorstellung von einem «mutigen Ort» stammt aus dem Gedicht «Invitation to a Brave Space», das Micky ScottBey Jones zugeschrieben wird. Sie schreibt, dass an diesem Ort die Aussenwelt ein wenig stiller werden soll, was sich in der Praxis häufig als sehr schwierig erweist. Wir arbeiten an den verschiedensten Orten. An einigen werden bestimmte Identitäten stigmatisiert oder angegriffen. Manche Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Identitäten können sogar illegal sein. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Teams den rechtlichen Rahmen ihrer Einsatzgebiete kennen und wissen, auf welche Intoleranzen bezüglich Geschlechteridentitäten, Religion usw. sie stossen könnten. Nur so ist eine fundierte Entscheidung für die Tätigkeit bei uns möglich. Wir leisten umfangreiche Arbeit als Organisation, arbeiten an uns selbst und miteinander, entwickeln interkulturelle Kompetenzen, Inklusivität und Zusammengehörigkeit, während wir versuchen, einen Ort zu schaffen, an dem wir persönlich und als Team mit einem gemeinsamen Ziel wachsen können. Wir sind keineswegs vollkommen. Auf gute Momente folgen Niederlagen. Es ist eine Lebensaufgabe für uns alle. Wer bei uns mitwirkt, beurteilt nach reiflicher Überlegung eigenverantwortlich, ob er oder sie in diese Kategorien passt.

Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

Wir dürfen die Gefahr des Friedenskolonialismus nicht ausser Acht lassen. Als Organisation aus dem globalen Norden können wir nicht einfach unsere Vorstellung von Frieden verpflanzen. Jede Kultur hat eigene Praktiken für Gewaltlosigkeit, Dialog, Mediation, Verhandlungen und Bewältigungsprozesse, die vielleicht ganz anders aussehen als bei uns. Wenn sie aber für die meisten von Gewalt Betroffenen funktionieren, müssen wir Herz und Verstand dafür öffnen, um lernen und unterstützen zu können. Wir als Aussenstehende bieten unsere bisherigen Erfahrungen und unser erworbenes Wissen über Risikobewertung, das Erkennen von Gewaltfaktoren und Korrelationen von Gewalt zwischen Personen und zwischen Bevölkerungsgruppen an. Wir können als Inspiration für kreative Ideen dienen und durch unsere Präsenz Zeugnis ablegen sowie uns solidarisch zeigen mit all jenen, die sich für Gewaltlosigkeit einsetzen.

In jeder Gemeinschaft, mit der wir bisher zusammengearbeitet haben, gab es stets eine Gruppe von Menschen, die der Gewalt ein Ende setzen wollte. Solche Gruppen möchten wir mit aller Kraft unterstützen.

Dass wir eine humanitäre Organisation sind, macht uns trotz unserer guten Absichten nicht frei von Vorurteilen, Fehlern und vorgefassten Meinungen. Mitunter müssen wir unangenehme Gespräche führen und bereit sein, auch mal negatives Feedback anzunehmen. Über unsere Positionalität zu reflektieren, ist eine Aufgabe, die nie endet – sowohl auf persönlicher Ebene als auch auf Team- und Organisationsebene.

 

 

 

 

 

Interview mit Tiffany Easthom teasthom@nonviolentpeaceforce.org Exekutivdirektorin, Nonviolent Peaceforce Interviewerin Sanjally Jobarteh Communication Officer, KOFF/swisspeace