Reflexion über Konfliktsensibilität in Osh, Kirgisistan, 2019. Regula Gattiker/Helvetas
Helvetas Regula Gattiker regula.gattiker@helvetas.org Senior Beraterin Konflikttransformation

Das Konzept «Do No Harm» (richte keinen Schaden an) entstand nach einer Reihe von Reflexionen über unerwünschte Nebenwirkungen der internationalen Hilfe in konfliktbetroffenen Kontexten sowie nach einem langfristig angelegten Forschungsprojekt der Beratungsagentur Collaborative for Development Action zum Völkermord in Ruanda. Es führte dazu, dass internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) für die Bedeutung einer gleichberechtigten Zusammenarbeit und einer Konzentration auf technische Unterstützung besser sensibilisiert wurden und sich verstärkt damit befassten. Zahlreiche Organisationen, darunter auch Helvetas, fördern den Dialog auf Augenhöhe und den Austausch auf Analyse- und Umsetzungsebene.

Bei der Arbeit in konfliktbetroffenen Kontexten – ob mit Fokus auf konfliktsensibler Entwicklung, auf humanitärer Hilfe oder auf Konflikttransformation und Friedensförderung – werden wir jedoch unmittelbar mit Positionalitäten konfrontiert: Unter anderem geht es darum, welche individuelle Haltung die Bevölkerung, unsere Mitarbeitenden und die am Projekt beteiligten Partner zu einem oder mehreren Konflikten haben und in welchen Rollen sie uns sehen. Meist werden diese Positionalitäten weder transparent gemacht noch diskutiert, mit Ausnahme der Hauptakteure des Konflikts während der Konfliktanalyse.

Einige Beispiele für herausfordernde Situationen, in die wir in den vergangenen Jahren geraten sind:

In Westafrika wurden wir, kurz nachdem wir einen Workshop initiiert hatten, von einer teilnehmenden Person gefragt, mit welchem Recht wir die Menschen in ihrem Land «belehrten», wie ihre Konflikte zu bewältigen seien, wenn doch ausgerechnet wir – gemeint waren Europäer:innen einer bestimmten Nationalität – für die Probleme verantwortlich seien, die sie nun ausbaden müssten.

In einem überaus schwierigen Konfliktkontext in Südostasien wurden wir gebeten, die diskriminierenden Sichtweisen von einigen Mitarbeitenden unserer Partner zu hinterfragen, ohne ihnen zu «diktieren», was richtig oder falsch ist. Wäre es uns nicht gelungen, die Einstellungen und das Verhalten der Gruppe gegenüber einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft auf dezente, wirksame und nachhaltige Weise zu verändern, hätte dies unser Projekt gefährdet.

Wenn Menschen aus völlig verschiedenen Hintergründen und mit individuellen Lebenserfahrungen erfolgreich zusammenarbeiten wollen, ist stets grösste Sorgfalt gefragt.

Positionalitäten, Wahrnehmungen, Vorurteile

Unsere Lebenserfahrungen prägen unsere Standpunkte: wo wir aufgewachsen sind, wer uns erzogen hat, welchen Gruppierungen wir uns zugehörig fühlen und was wir erlebt haben. Das alles wirkt sich darauf aus, wie wir im Laufe unseres Lebens über andere denken und mit ihnen interagieren. Je grösser die Schnittmenge unserer Welten, desto grösster unser Zugehörigkeitsgefühl. Je weniger Übereinstimmungen, desto geringer unser Vertrauen. Konfliktbetroffene Kontexte verstärken das negative Bild, das wir von einem Menschen haben[1]: Die Angst nimmt zu, wir nehmen den anderen als Bedrohung wahr, neigen zu Polarisierung und unsere Positionen verhärten sich.

Positionalitäten in der Praxis: unterschiedlichen Wahrnehmungen mit gesundem Menschenverstand und Fingerspitzengefühl begegnen

Im Zusammenhang mit Positionalitäten war Helvetas mit Herausforderungen konfrontiert, als wir uns für die Rechte von Frauen auf politische Teilhabe, Zugang zur Justiz und Grundbesitz einsetzten. Manchmal müssen wir auch unsere Werte zu politischen Systemen auf den Prüfstand stellen: Inwieweit ist unsere Annahme gerechtfertigt, dass eine Demokratie in jedem Kontext die beste Lösung darstellt? Oft verletzen wir mit dem, was wir erreichen wollen, auch kulturelle Normen. Es kann daher heikel sein, Systemveränderungen und gute Regierungsführung in Einklang zu bringen. Die behutsame Arbeit an diesen Veränderungsprozessen braucht Zeit und muss ein breites Spektrum von Anspruchsgruppen einbinden.

In Kontexten mit schweren Konflikten ist es für unsere Ortskräfte besonders komplex, alle Konfliktparteien zu unterstützen, da sie sich in manche besser einfühlen können als in andere. Doch auch Expats sind nicht frei von Positionalitäten: Wir alle neigen zu vorschnellen Urteilen, Verallgemeinerungen und Schubladendenken. In solchen Fällen müssen wir unsere Vorurteile hinterfragen und konstruktiv damit umgehen, um professionell und konfliktsensibel zu bleiben.

Wie diese Erkenntnis unsere Arbeit seitdem beeinflusst und uns in herausfordernden Situationen hilft

In der Vergangenheit hatte unser «Konfliktsensibles Programm Management» (CSPM) eher einen technokratischen Schwerpunkt. Wir zeigten Personal und Partnern, wie sie unsere Organisation und unsere Projekte in ihre Konfliktanalysen einbeziehen. Doch vor ein paar Jahren erkannten wir, dass wir andere unweigerlich irgendwie wahrnehmen und von ihnen wahrgenommen werden. Sich bewusst zu machen, was das bedeutet, ist eine Voraussetzung für konfliktsensible Arbeit. Daraufhin ergänzten wir unserem Ansatz um eine weitere Analysedimension: die individuelle Ebene. Sie umfasst Folgendes:

  1. Analyse, wie Sozialisierung die Einstellungen und das Verhalten von uns und von weiteren Personen gegenüber anderen prägt
  2. Reflexion, wie unsere Einstellungen und unser Verhalten die Beziehungen zu anderen prägen
  3. Reflexion, wie potenzielle Spannungen abgemildert werden können, beispielsweise indem wir mit Personen in Kontakt treten, die möglicherweise ein negatives Bild von uns haben, oder indem wir darauf achten, nicht zu viel Nähe zu schaffen, die bei anderen Misstrauen schüren könnte
  4. Einbindung all dieser Überlegungen in unsere konfliktsensible Analyse und Strategie

 

In der oben beschriebenen Situation in Westafrika bestand unsere Strategie darin, der teilnehmenden Person zuzuhören und Empathie zu zeigen. Wir signalisierten, dass uns alle Meinungen interessierten und dass wir gerade wegen der angesprochenen Probleme ein Forum schaffen wollten, um zu diskutieren, wie wir konstruktiver mit Spannungen umgehen und so zum Wohlergehen der Bevölkerung beitragen können. Am Ende des Workshops dankte uns die Person für die freundliche Atmosphäre, die es – entgegen ihren Erwartungen – ermöglichte, Brücken und Vertrauen aufzubauen.

In Südostasien luden wir die Mitarbeitenden unseres Partners zu einem Workshop ein, um eine gemeinsame fruchtbare Basis für unsere Zusammenarbeit zu schaffen. Beim Rollentausch konnten sie sich in die Lage anderer versetzen und so Vorurteile abbauen. Mithilfe von emotional berührenden Simulationen veränderten sie ihre Wahrnehmung. Dank der eingehenden Reflexion im Anschluss an die Übungen schrumpfte das Misstrauen gegenüber anderen, während das gegenseitige Verständnis wuchs. Das Team entwickelte eine pluralistischere, gerechtere Sichtweise, erkannte die Notwendigkeit des sozialen Zusammenhalts und vereinbarte schliesslich, dass alle ethnischen und religiösen Gruppen im Land Gleichberechtigung und Gleichbehandlung verdienten.

Erkenntnisse und Schlussfolgerungen

Wir sind der Ansicht, dass Fachkräfte für Friedensförderung und Entwicklung aus westlichen Ländern ihr Bewusstsein für Positionalitäten und ihre Sensibilität gegenüber politischen Ökonomien, Machtverhältnissen und Konflikten deutlich geschärft haben.

Wie Helvetas feststellte, können Positionalitäten noch immer Herausforderungen darstellen, vor allem in von Neokolonialismus geprägten Kontexten, etwa durch die Präsenz von europäischen oder US-amerikanischen Streitkräften, oder bei der Arbeit mit neuen Partnern. Wir können sie jedoch überwinden, indem wir uns als fairer Partner etablieren, der eine wirkungsvolle Arbeit mit lokaler Relevanz leistet. Wenn wir uns als «Instrumente» für Ideenfindung und Vermittler von gemeinsamen Lernprozessen erweisen, legen wir den Grundstein für Vertrauen und gute Beziehungen.

Beim Umgang mit Positionalitäten im Rahmen unserer Tätigkeit bleibt jedoch noch Luft nach oben. Mit folgenden Massnahmen möchten wir weitere Verbesserungen erzielen:

  1. Entwicklung von Schulungsinhalten zur Förderung der Selbstwahrnehmung und -reflexion unserer Mitarbeitenden und Partner mit dem Schwerpunkt Konfliktsensibilität. Nachdem wir in Mosambik und Mali einen Modellversuch durchgeführt haben, wird die Schulung in vielen weiteren Ländern nachgefragt
  2. Angebot regelmässiger Lern- und Austauschveranstaltungen auf allen Ebenen, um Konfliktsensibilität in unseren Köpfen, Herzen und Händen zu verinnerlichen und um in allen Ländern Schwerpunktzentren einzurichten, die auch unsere Partner schulen und unterstützen können
  3. Aufnahme des internen Austauschs zum fachgerechten Umgang mit Traumata

 

Es bleibt viel Raum für Wissenserweiterung und Verbesserung, damit wir eine faire Zusammenarbeit garantieren können. Gemeinsam wollen wir neue Möglichkeiten ergründen und unsere Erfahrungen weitergeben!

[1] Le Shan, L. (1992). The Psychology of War. Chicago: Noble Press.

Helvetas Regula Gattiker regula.gattiker@helvetas.org Senior Beraterin Konflikttransformation