Bole, Addis Ababa, Februar 2015. Jasmine Halki / Creative Commons
DCAF - Abteilung Subsahara-Afrika Alexander Burian SSR Senior Expert

Äthiopien steht angesichts der erhöhten Spannungen an einem kritischen Scheideweg (Konflikt in Tigray, Wahlen, die ehrgeizige Reformagenda des Premierministers und politischer Umbruch). Neben der zunehmenden politischen und ethnischen Polarisierung erfährt das Land eine beispiellose interne Sicherheitskrise, die Frieden und Stabilität immer stärker bedroht. Trotz dieser Herausforderungen ist das aktuelle Umfeld relativ günstig für strategische Reformen des Polizeiwesens, wodurch einige der strukturellen oder institutionellen Faktoren verändert werden könnten, die die jüngste Eskalation von Gewalt und Konflikten ermöglicht oder sogar begünstigt haben. Der Weg zu Frieden und Entwicklung führt in erster Linie über gesamtgesellschaftlichen politischen Dialog und Zusammenhalt. Darüber hinaus ist eine Überprüfung der Gouvernanz im Sicherheitssektor und der Reformdefizite massgeblich für den weiteren Verlauf der Bemühungen zur Konfliktprävention. Bislang haben nationale und internationale Akteure der Gouvernanz im äthiopischen Sicherheitssektor jedoch nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

In Ermangelung eines wirksamen zivilen Kontrollsystems ist es schwierig, den Einfluss der Politik auf Sicherheitsoperationen zu begrenzen, den Sicherheitssektor für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen, auf das Verhalten von Sicherheitsinstitutionen einzuwirken und in Äthiopien einen Sicherheitsansatz zu schaffen, der die Zivilbevölkerung besser berücksichtigt. Da von aussen kaum eine Forderung nach Reformen oder Verhaltensänderungen kommt, kann sich der Sicherheitssektor schädigende Verhaltensweisen erlauben oder sogar straffrei handeln. Die grösste Schwierigkeit liegt darin, dass das 2018 geschaffene Ministerium für Frieden mit der Aufsicht über alle zivilen Sicherheitsbehörden betraut wurde. Die Kapazitäten sind jedoch begrenzt und die Zuständigkeiten für die Aufsicht über den Sicherheitssektor unzureichend definiert. Für die Überwachung der Polizeiarbeit steht dem Ministerium nur eine Handvoll Mitarbeitende zur Verfügung, wovon einige sogar von der Polizei selbst an die Behörde abgeordnet wurden. In der Praxis übernehmen diese Mitarbeitenden oft andere Aufgaben des Ministeriums, darunter auch die Koordination humanitärer Hilfe. Angesichts der über 140’000 Polizeikräfte in dem Land mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl Afrikas wird deutlich, dass die für den Gesetzesvollzug abgestellten Kapazitäten des ministerialen Beamtenapparats der komplexen Aufgabe, die Leistung sowie das Budget zu überprüfen und die Umsetzung von Polizeireformen durchzuführen oder gar zu überwachen, nicht gewachsen sind. Aus diesem Grund hat das Ministerium Zuständigkeiten oft anderen Institutionen übertragen oder die Polizei sich selbst überlassen. Der Aufbau von Kapazitäten sollte auf jeden Fall Hand in Hand mit der Entwicklung eines strategischen Konzepts erfolgen, das die Gesamtrolle des Ministeriums im breiteren Rahmen der Sicherheitssektorgouvernanz definiert.

Äthiopien muss seine regionale und nationale Sicherheitsarchitektur kritisch hinterfragen. Dies umfasst auch eine bessere Regulierung der in die interne Sicherheit involvierten Akteure, damit der Einsatz oder Beizug von Spezialkräften und Milizen für Polizei- oder andere kritische Zivilschutzangelegenheiten begrenzt werden kann. Aufgrund der mangelhaften Regulierung und Aufsicht haben die Regionen häufig ihre weitreichenden Befugnisse genutzt, um eigene Spezialkräfte einzurichten, die dem Militär in Bezug auf Ausrüstung und Grösse in nichts nachstehen. Da klare Massstäbe für Operationen und Ausbildung sowie eine effektive Aufsicht über die Spezialkräfte fehlen, wurden sie nicht selten zum Anzetteln von Gewalt und Übergriffen missbraucht. Die jüngste Zunahme von Konflikten bestätigt, dass dringend durch einen umfassenden, strategischen Dialog geklärt werden muss, wie diese Kräfte überwacht und zur Verantwortung gezogen werden können. Es bedarf einer langfristigen Strategie zum Abbau ihrer Einsätze und zur Befähigung der regulären Polizei, diese Aufgaben, die eigentlich in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, wahrzunehmen.

Seit Beginn des politischen Wandels im Jahr 2018 hat die Bundespolizeikommission Äthiopiens in aller Stille einige wichtige Reformen auf den Weg gebracht. Nachdem eine ehrgeizige Reformagenda formuliert wurde und die Polizeiführung selbst Reformen verlangt, könnte der Zeitpunkt für eine Neugestaltung der äthiopischen Bundespolizei trotz der Krise nicht besser sein. Ende 2020 verabschiedete Äthiopien eine ambitionierte neue Polizeidoktrin, die sowohl die Bundes- als auch die Regionalpolizei verpflichtet, sich auf internationale Standards, Werte und Grundsätze zu berufen. Die Polizeidoktrin allein garantiert zwar nicht, dass im Anschluss eine Reform durchgeführt wird, dient aber als bedeutender Bezugswert und Rahmen für die Förderung einer Polizeireform. Insbesondere behandelt sie wesentliche politische Verpflichtungen, die sicherstellen sollen, dass die Polizei Rechenschaft ablegt, die Menschenrechte einhält und eine inklusive, repräsentative Organisation ist. Gleichzeitig soll die neue Polizeidoktrin politisch motivierte Ernennungen und politische Einflussnahme verringern, operationelle Konzepte für eine gemeinschaftsorientierte Polizeiarbeit einführen und dafür sorgen, dass die Regelung der öffentlichen Ordnung durch die Polizei verhältnismässig ist, was sich ebenfalls direkt auf Polizeioperationen auswirken dürfte. Als Reaktion auf die Doktrin hat die äthiopische Bundespolizei mit den notwendigen Reformen begonnen, einschliesslich der Entwicklung eines neuen Mechanismus zur Bearbeitung öffentlicher Beschwerden, Investitionen zur Schulung von Polizeikräften durch die Polizeihochschule, der Erprobung von nachrichtendienstlich gestützter Polizeiarbeit und der Priorisierung von Ermittlungsstrukturen und -ansätzen.

Nur wenn Effizienz und Rechenschaftslegung der Polizei verbessert werden, verfügt die Regierung über die erforderlichen Instrumente, um auf zukünftige Sicherheitsprobleme in Äthiopien verhältnismässig und wirksam reagieren zu können.  Trotz einer klar erkennbaren Chance, die Polizeireform voranzubringen, bleibt die Herausforderung bestehen, dass die internationale Gemeinschaft den Bedarf an Beratung und finanzieller Unterstützung bisher nicht priorisiert hat.

DCAF - Abteilung Subsahara-Afrika Alexander Burian SSR Senior Expert