Khadija (rechts), Hebamme, wiegt das Baby von Nooria (links). Die Hebammen von Tdh betreuen Frauen und Babys ab der 12. Schwangerschaftswoche bis zum sechsten Monat nach der Geburt. Tdh
Interview mit Erhard Bauer (Tdh) Leiter der Delegation Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan

Ein Interview mit Erhard Bauer, Leiter der Delegation von Terre des hommes (Tdh) in Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan.

Was umfasst Ihr Tätigkeitsfeld in Afghanistan?

Terre des hommes (Tdh) engagiert sich seit 1995 für die Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern in Afghanistan. Mit unserer Arbeit bekämpfen wir den mangelnden Zugang zur Gesundheitsversorgung, der teilweise auf bestimmte afghanische Traditionen zurückzuführen ist, welche die Mobilität der Frauen einschränken. Wir setzen daher flexible Teams von Hebammen und Sozialarbeiter:innen ein, die Familien besuchen und ihnen Gesundheitsversorgung und soziale Unterstützung bieten (z. B. Untersuchungen, Beratung zur Geburtsvorbereitung und Neugeborenenpflege, Hygieneanweisungen und Beratung zur Familienplanung). Mit diesem Ansatz hat Tdh wesentlich zur Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit beigetragen.

Ein weiterer wesentlicher Bestandteil unserer Tätigkeit in Afghanistan ist der Kinderschutz. Wir unterstützen Kinder und ihre Familien, die innerhalb Afghanistans auf der Flucht sind, sowie Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran. Die bewaffneten Konflikte in Afghanistan haben in den letzten 21 Jahren zu enormen Bevölkerungsbewegungen geführt. Bis heute beeinträchtigen die Besetzung von Land und Eigentum sowie Dürren die Lebensgrundlagen vieler Menschen. Dies führt dazu, dass viele Binnenvertriebene und Flüchtlinge daran gehindert sind, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie halten sich daher in Gebieten auf, die bessere Lebensbedingungen bieten (hauptsächlich in den Großstädten oder im Osten Afghanistans). Kinder, die aus ihrer ursprünglichen Umgebung vertrieben wurden, leben unter prekären Bedingungen (ohne angemessene Unterkunft) und sind in ihrer neuen Umgebung oft nicht willkommen. In den neuen Wohnorten gibt es entweder die notwendigen Dienstleistungen (Gesundheitsversorgung oder Schulen) nicht oder die lokalen Ressourcen sind so begrenzt, dass sie die Bedürfnisse dieser Kinder nicht erfüllen können. Als Bewältigungsmechanismen greifen einige Familien auf Kinderarbeit oder frühe Heirat zurück. Tdh trägt dazu bei, solche Situationen zu verhindern, indem es Betroffene für die Aufnahmebedingungen unserer Programme sensibilisiert, die deren Lebensunterhalt unterstützen und den Zugang zu neuen Einkommensmöglichkeiten verbessert. Auf diese Weise hat Tdh vielen Kindern geholfen in die Schule zurückzukehren.

Hat sich die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Die Übernahme des Regimes durch die Taliban im vergangenen Jahr (August 2021) war für uns ein Wendepunkt. Die neuen Umstände waren jedoch gleichzeitig nicht völlig neu. Da einige unserer Kolleg:innen schon zuvor in von den Taliban beherrschten Gebieten gearbeitet hatten, konnten wir als internationale Organisation bereits auf Erfahrungen mit der Arbeit in einem von den Taliban beherrschten Umfeld und der Koordinierung mit Taliban-Beamten zurückgreifen.

Was war Ihre größte Sorge nach diesem Umbruch und wie gehen Sie damit um?

Wir beschäftigen 280 afghanische Mitarbeitende, darunter drei Auslandsentsandte. Unsere Arbeit wird hauptsächlich von afghanische Frauen ausgeführt. Unser Gesundheitsprogramm für Mütter und Kinder wird fast ausschließlich von weiblichen Hebammen, Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen durchgeführt, mit nur wenigen männlichen Kollegen. Nach der Machtübernahme durch die Taliban bestand unser Hauptanliegen darin, ihre offizielle Haltung zur Beschäftigung von Frauen herauszufinden. Es war nicht klar, ob unsere Kolleginnen noch arbeiten durften. Es dauerte mehrere Wochen, wenn nicht Monate, bis die Taliban-Herrschaft wirklich feststand und wir herausfinden konnten, an welche Ansprechpartner wir uns in der neuen Verwaltung wenden konnten. Dieses Klima der Unsicherheit veranlasste uns zunächst unsere Aktivitäten einzustellen. Sobald wir die richtigen und verfügbaren Ansprechpartner auf nationaler und lokaler Ebene gefunden hatten, erhielten wir die erforderlichen Genehmigungen relativ schnell (innerhalb von drei Wochen), so dass unsere Kolleginnen ihre Arbeit fortsetzen konnten.

Wie sah Ihr (Arbeits-)Umfeld während des Regimewechsels aus?

Die Machtübernahme verlief in den Großstädten weitgehend friedlich, brachte aber viele Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung mit sich. Die Bevölkerung war unvorbereitet und schockiert, vor allem von der Geschwindigkeit der Veränderungen. Die Verantwortlichen für den Sicherheitssektor (Polizei, Armee) verschwanden und inoffizielle Akteure übernahmen zunächst ihre Dienste. Später übernahmen die Taliban nach und nach einen Teil der Aufgaben. Die Gewährleistung der Sicherheit unserer Mitarbeitenden hatte während diesem Übergangsprozess für uns stets Priorität. Danach nahmen wir uns die Zeit, intern zu diskutieren, wie es weitergehen sollte. Wir fragten uns, wo wir uns unter diesen Umständen positionieren würden, was noch möglich wäre und was nicht. Letztendlich waren unsere Aktivitäten im Bereich der Gesundheitsfürsorge für Mütter und Kinder nicht sehr beeinträchtigt, da wir von der Unterstützung der Zivilgesellschaft profitieren und einige Taliban den Mehrwert unserer Präsenz anerkennen. Es ist gut möglich, dass unsere Grundsätze der Unparteilichkeit und Neutralität hier ein Türöffner darstellten.

Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft Ihrer Arbeit in Afghanistan?

In den letzten Jahrzehnten bevor die Taliban die Macht in Kabul übernahmen, konnten wir Verbesserungen bei den Schul- und Hochschulbesuchsquoten beobachten, mitunter auch bei den Einschulungsquoten von Mädchen. Seit März 2022 verhindern die Taliban den Schulbesuch von Mädchen nach der 6. Klasse jedoch konsequent. Im Moment können wir noch qualifiziertes weibliches Personal finden. Falls sich die Situation jedoch nicht zeitnah wieder ändert, wird es im Gesundheitssektor und in anderen Bereichen, die zum Frieden und zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen, an ausgebildetem Personal mangeln. Wenn die neue afghanische Regierung die Ausbildung von Hebammen und Ärztinnen verhindert, werden wir unsere Aktivitäten sicherlich nicht fortsetzen können, da die Einstellung von Frauen für die reproduktive Gesundheit in diesem Land ein absolutes Muss ist.

 

Interview mit Erhard Bauer (Tdh) Leiter der Delegation Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan