100 Jahre kumulierte Erfahrung in der Förderung der israelisch-palästinensischen Begegnung. Lausanne, September 2022. Coexistences
Coexistences Fiuna Seylan Präsidentin

In dem seit mehr als 100 Jahren bestehenden israelisch-palästinensischen Konflikt kommt es immer wieder zu Phasen von Gewalt und Entmenschlichung, die eine Atmosphäre der Angst und des Misstrauens schaffen. Eine der Folgen dieses Konflikts ist, dass man sowohl physisch als auch psychisch in getrennten Welten lebt: Palästinenser:innen und israelische Jüdinnen und Juden in Israel und Jerusalem leben nur wenige Kilometer voneinander entfernt, aber in separaten Gemeinschaften. Ihre Bildungssysteme sind getrennt und die Kontakte begrenzt. Dies gilt umso mehr für die besetzten palästinensischen Gebiete und noch stärker für den Gazastreifen.

Israelisch-palästinensische Begegnungsgruppen sind der einzige Ort, an dem ein sinnhafter Dialog stattfindet und der Entmenschlichung des Gegenübers etwas entgegengesetzt wird – jenseits von Machtasymmetrien, negativen (Medien-)Narrativen, politischer Aufwiegelung, Vorurteilen und miteinander konkurrierenden Opferrollen. Solche Räume auf Augenhöhe sind von entscheidender Bedeutung. Sie ermöglichen es den Teilnehmenden, von Delegitimierung und Ignoranz (die Gleichgültigkeit gegenüber Besetzung und Gewalt bewirken) zu einer differenzierteren, komplexeren Sichtweise zu gelangen. In ihren eigenen Worten geben solche Begegnungsgruppen den Teilnehmenden Gelegenheit, durch den Blick auf ihre Wechselbeziehungen «Einsichten zu erlangen und Ereignisse einzuordnen». Der Dialog ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument für Veränderungen auf persönlicher und struktureller Ebene. Wenn keine direkten Verhandlungen stattfinden, kann Dialog alleine einen Konflikt nicht lösen. Frieden kann jedoch immer nur zwischen Menschen geschlossen werden, und politische Akteure werden nur dann Verhandlungen führen, wenn sie aus ihrer jeweiligen Gemeinschaft heraus Unterstützung erfahren.

Eine Studie über die langfristigen Auswirkungen des israelisch-palästinensischen Dialogs hat gezeigt, dass 75 Prozent der Teilnehmenden nach einem Jahr und 53 Prozent auch nach drei Jahren noch engagiert sind. 17 Prozent möchten sogar die Friedensförderung zu ihrem Beruf machen. Laut einer Schätzung aus dem Jahr 2019 haben jedoch weniger als zwei Prozent der israelischen Bevölkerung am binationalen Dialog im Rahmen einer der 164 Basisinitiativen teilgenommen, und es wird  immer schwieriger, Menschen für solche Gruppen zu gewinnen. Im Nordirlandkonflikt hatte in den zwölf Jahren vor dem Karfreitagsabkommen mehr als ein Drittel der Bevölkerung an Begegnungen teilgenommen. Diese wurden mit Unterstützung eines internationalen Fonds durch 6000 Basisinitiativen organisiert.

Um einen ausreichenden Teil der Bevölkerung für einen nachhaltigen und dauerhaften Frieden zu gewinnen, müssen sich daher viel mehr Menschen in Israel und Palästina in der Arbeit von Mensch zu Mensch (People to People, P2P) engagieren. Für diese Arbeit braucht es die Anleitung durch kompetente Vermittler:innen und eine ausreichende Finanzausstattung. Zwar weisen viele Vermittler:innen umfangreiche praktische Erfahrungen auf, aber nur schätzungsweise 15-20 Prozent eine formale Ausbildung. Es gibt keine übergreifende sektorielle Organisation, die einen fruchtbaren Gedankenaustausch, Reflexion und die Nutzung von kollektivem Wissen ermöglicht.

Coexistences entwickelte ein zweijähriges Pilotprogramm, um einen positiven Kreislauf des Austauschs und der Vertiefung von Gesprächen über Themen zu schaffen, mit denen Praktiker:innen konfrontiert sind (wie Vertrauen, sichere Räume, Machtasymmetrie, externe Ereignisse, Gruppenarbeit und -dynamik). Den Ausgangspunkt bildeten die Vermittler:innen der 33 Gruppen, die Coexistences seit 2006 betreut hat. Diese Vermittler:innen wussten nur sehr wenig übereinander und über die anderen Programme und Ansätze der Organisation. Siebzehn Praktiker:innen aus Israel, Jerusalem und dem Westjordanland, die zusammen 100 Jahren Praxisarbeit aufweisen konnten, lernten voneinander und wuchsen während des ersten Seminars Anfang September zu einer Gruppe zusammen.

Seitdem haben sich zwei Interessengruppen gebildet, die sich seit ihrer Rückkehr bereits zweimal getroffen haben. Dies zeigt, dass das Programm einen klaren Bedarf anspricht. Nach einer Reihe lokaler Begegnungen soll 2023 das zweite und abschliessende Seminar stattfinden, das die Teilnehmer:innen selbst gestalten werden.

Coexistences Fiuna Seylan Präsidentin