Schulkinder in der Nähe von Damaskus: Dass sie trotz der schwierigen Umstände den Unterricht besuchen können, ist sehr wichtig für die Zukunft des Landes. Hasan Belal/Caritas Schweiz
Caritas Switzerland Petra Winiger Operative Leiterin Internationale Zusammenarbeit

Nach über 11 Jahren Krieg ist die humanitäre Hilfe in Syrien nach wie vor überlebenswichtig für die Menschen. Der Bedarf hat aufgrund der Preisexplosion für Lebensmittel infolge des Ukraine-Krieges nochmals stark zugenommen. Für Hilfsorganisationen gilt es aber mit Blick auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau, der nach einer Befriedung des Landes ansteht, auch langfristige Perspektiven zu schaffen.

Der Syrienkrieg ist eine der grössten humanitären Katastrophen der jüngeren Geschichte. Seit 2015 ist die Zahl der Todesfälle stetig zurückgegangen und hat im Jahr 2021 noch ungefähr 4000 betragen. Dies deutet zwar auf eine Abnahme der Konfliktintensität hin, eine Normalisierung der Lage ist aber nicht in Sicht. Im Gegenteil: Während sich der Fokus der Weltöffentlichkeit auf andere Konfliktregionen und Katastrophen (wie die in der Ukraine) verschoben hat, verschlechtert sich die wirtschaftliche Situation der Menschen in Syrien in besorgniserregendem Ausmass.

Enorme Ernährungsunsicherheit

Von den rund 21 Millionen Syrer:innen sind mehr als 6,5 Millionen über die Landesgrenzen geflohen, vor allem in die Nachbarländer Libanon, Türkei und Jordanien. In Syrien selbst ist mehr als die Hälfte der Erwerbsbevölkerung arbeitslos und um die 80 Prozent der Menschen leben in Armut. Für 12 Millionen Menschen, also die grosse Mehrheit der Bevölkerung, ist die Ernährungssicherheit nicht gewährleistet. Für sie geht es täglich ums Überleben. Sie sind mit einem Anstieg der Lebensmittelpreise um das Fünffache innerhalb von zwei Jahren konfrontiert, und die Teuerung hält weiter an. Die wirtschaftliche Lage ist so prekär wie noch nie. Neben dem Krieg in der Ukraine sind dafür die massiven Ernteverluste infolge der Trockenheit im Land und die Corona-Pandemie eine Ursache. Syrien leidet – wie viele der ärmeren Länder weltweit und insbesondere auch wie der benachbarte Libanon – unter einer ausgeprägten Mehrfachkrise.

Nothilfe bleibt unverzichtbar

Die Internationale Zusammenarbeit, wie sie auch Caritas Schweiz vor Ort umsetzt, versteht sich immer auch als Beitrag zur Friedensförderung. In Syrien erscheint der Weg zu einem Frieden aber als lang und hindernisreich. In dieser Situation gilt es, den sich verschärfenden sozialen Verwerfungen wo immer möglich entgegenzuwirken. Ohne eine nachhaltige Befriedung Syriens und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in der Region sind Nothilfeprojekte weiterhin unabdingbar.

Um Grundbedürfnisse wie Ernährung und Unterkunft zu decken, sind vulnerable Familien zu negativen Bewältigungsstrategien gezwungen. Sie reduzieren etwa die Zahl der Mahlzeiten pro Tag, sparen bei Gesundheit und Bildung oder verkaufen Teile ihres Besitzes, die sie eigentlich noch benötigen würden. Kinderarbeit, Schulabbruch und Kinderehen nehmen zu. Häusliche Spannungen und Gewalt steigen. Die Familienbeziehungen sind erheblichen Belastungen ausgesetzt im täglichen Ringen darum, über die Runden zu kommen. Caritas Schweiz unterstützt aktuell Familien in Städten wie Aleppo oder Homs mit Bargeldhilfe: Ein halbes Jahr lang erhalten sie monatliche Geldzahlungen und werden durch Sozialarbeitende betreut. Dieser Cash-Ansatz ermöglicht es den begünstigten Familien, das Geld genau dort einzusetzen, wo sie es am dringendsten benötigen, etwa auch für Medikament oder eine bessere Isolation ihrer Wohnräume gegen die winterliche Kälte. Gleichzeitig werden die lokalen Partnerorganisationen, welche den direkten Zugang zur Bevölkerung mit dem dringendsten Bedarf haben und die Umsetzung diese Hilfe sicherstellen, gestärkt. Als Träger der Zivilgesellschaft werden sie wichtige Akteure einer Überwindung der Krise und einer zukünftig friedlichen Entwicklung des Landes sein.

Eine «Lost Generation» verhindern

So wichtig die Überlebenshilfe für die Menschen ist, gilt es auch die Herausforderungen für eine Zeit nach einem wie auch immer ausgestalteten Frieden zu planen. Zum Beispiel bei der Bildung: Das staatliche Schulsystem funktioniert kaum und lässt Generationen von Kindern und Jugendlichen ohne Bildungsperspektive. Die Arbeit von NGOs und internationalen Organisationen ist darauf ausgerichtet, zu verhindern, dass die Last des Wiederaufbaus auf dem Rücken einer «Lost Generation» mit geringer oder gar keiner Bildung lasten wird. Caritas Schweiz unterstützt Projekte ihrer lokalen Partnerorganisationen, die Kindern den Zugang zu Bildung ermöglichen. Ein zentraler Faktor ist dabei auch die Fortbildung der Lehrpersonen.

Die Finanzierung von Projekten zugunsten der syrischen Bevölkerung ist nach elf Jahren Krieg schwierig. Der Finanzbedarf der grossen internationalen Agenturen ist nicht einmal zur Hälfte gedeckt. Der Krieg in der Ukraine absorbiert Finanzmittel und akzentuiert diese Situation zusätzlich. Aber auch die steigenden Preise wirken sich negativ auf die Hilfe aus. So musste das World Food Programme die Rationen ihrer Nahrungsmittelhilfe aus Kostengründen verkleinern.

Ein politischer Frieden für Syrien ist notwendig, um die Armutsspirale im Land zu stoppen. Krieg kostet zu viel. Leider haben sich die Aussichten auf einen politischen Frieden mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges noch weiter verschlechtert.

NGO-Engagement braucht es daher nicht nur vor Ort: Die internationale Gemeinschaft muss immer wieder daran erinnert werden, dass sie sich verstärkt für dauerhaften Frieden und den Wiederaufbau einsetzen muss. Auch die Schweiz ist aufgefordert, ihren Beitrag weiterhin und verstärkt zu leisten. Als Aufnahmeland spielt die Schweiz für geflüchtete Menschen aus Syrien eine marginale Rolle. Trotzdem tut sich unser Land sehr schwer damit: Fast die Hälfte der in der Schweiz lebenden 20’000 Syrer:innen haben keinen Flüchtlingsstatus, sondern sind nur «vorläufig aufgenommen». Es gehört zu einem umfassenden Ansatz, dass sich Caritas für ihre Anerkennung als Flüchtlinge einsetzt.

 

 

Caritas Switzerland Petra Winiger Operative Leiterin Internationale Zusammenarbeit