Sandra Ramirez (in der Mitte) besucht ein Projekt in Chalatenango, März, 2019

Interview mit Sandra Ramirez, nationale Koordinatorin bei Terre des hommes Schweiz

à propos: Wie beteiligt sich die NGO Terre des hommes an migrationsbezogenen Projekten in El Salvador?

Sandra Ramirez: Seit mehr als 40 Jahren ist El Salvador von der Abwanderung von Migrant_innen betroffen, die hauptsächlich über Guatemala und Mexiko auf der Flucht vor Armut und Gewalt in die Vereinigten Staaten reisen. Die Jugendarbeitslosigkeit im Land liegt bei 13,6% und besonders die gebirgige Region Chalatenango im Norden ist stark betroffen. Diese Region wurde im Bürgerkrieg stark verwüstet und leidet noch immer unter den wirtschaftlichen Folgen. Terre des hommes unterstützt die lokale NGO CORDES (Fundación para la Cooperación y el Desarrollo Comunal de El Salvador), die ein Projekt zur Chancenverbesserung von Jugendlichen in Chalatenango durchführt. CORDES identifiziert einkommensschaffende Aktivitäten in der Region und bietet jungen Arbeitssuchenden darauf abgestimmte Berufsausbildungen an, um ihre unternehmerischen Kompetenzen zu verbessern. Trotz des Mangels an Arbeitsmöglichkeiten sind wir überzeugt, dass diese Jugendlichen in Chalatenango eine Zukunft haben können. Das Klima und der gute Boden machen die Region geeignet für die Landwirtschaft und die lokale Bevölkerung verfügt über grosses landwirtschaftliches Wissen.

Ausserdem begleitet CORDES die jungen Menschen unter Anwendung eines psychosozialen Ansatzes. Den Jugendlichen soll nicht nur bei der Erreichung ihrer Ziele geholfen werden; es soll auch ihr Selbstwertgefühl gestärkt und ihre Beteiligung an der Gemeindeentwicklung gefördert werden.

à propos: Glauben Sie, dass Migration auch zum Frieden in Ihrem Land beitragen kann? Beispielsweise dann, wenn Salvadorianerinnen und Salvadorianer in den Vereinigten Staaten ihre Einkommensmöglichkeiten verbessern und dieses Kapital dann später in El Salvador investieren?

SR: Obwohl ich das Recht auf Bewegungsfreiheit respektiere, glaube ich nicht, dass Migration eine gute Option ist. Anstatt zum Frieden zu führen, hat sie meines Erachtens mehr negative Folgen als Vorteile für unser Land.

Zunächst einmal gibt es nur wenige, die nach El Salvador zurückkehren, da die Rückkehr mit sozialer Stigmatisierung und der Vorstellung des Scheiterns verbunden ist. Stattdessen ermutigen sie ihre Angehörigen, ebenfalls auszuwandern, indem sie ein attraktives Bild ihres neuen Lebens verbreiten, welches nicht immer der Realität entspricht.

Darüber hinaus schürt die Migration den Menschenhandel, der ein riesiges Problem darstellt. Einige der Migrantinnen und Migranten werden auf ihrem Weg mit dem gleichen oder sogar noch schlimmeren Grad an Gewalt konfrontiert wie in El Salvador. Viele Menschen verschwinden und ihre Familien werden ohne Informationen zurückgelassen. Auch ihre wirtschaftliche Situation verbessert sich nicht unbedingt, da einige unter sehr prekären Bedingungen in Lagern in Mexiko oder in den USA leben.

Nicht alle sind erfolgreich in den Vereinigten Staaten. Dies hat zur Folge, dass die Schulden, welche die Familienmitglieder zur Finanzierung der Reise gemacht haben, nicht zurückgezahlt werden. Das führt zu einem Verlust an inländischem Kapital.

Eine weitere Bedrohung für den Frieden ist der Zerfall der Familie. Es kommt sehr häufig vor, dass Männer ohne ihre Frauen und Kinder abreisen. Im schlimmsten Fall verlassen beide Elternteile die Familie und die Kinder bleiben ohne Erziehung, Ausbildung oder finanzielle Unterstützung zurück. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Kinder Banden anschliessen, oder anfällig für die Rekrutierung durch kriminelle Gruppen werden, die sich als neue Familie ausgeben. So wird ein Teufelskreis geschaffen. Indem man ihr entkommen will, schürt man neue Gewalt.

à propos: Was halten Sie von dem Abkommen, das im September 2019 zwischen den USA und El Salvador unterzeichnet wurde, um Asylsuchende nach El Salvador zurückzuschicken?

SR: Ich denke, dass Menschen sich frei bewegen können sollten. Wohin sie wollen. Dieses Abkommen ist sehr problematisch, weil viele Asylsuchende aus El Salvador, Honduras oder Guatemala jetzt in Mexiko festsitzen und die Grenze nicht überqueren können. Sie leben unter sehr prekären Bedingungen, manchmal in Lagern, und riskieren, Opfer von Gewalt oder Prostitution zu werden.

Wir müssen die Menschen davor schützen, in solche Situationen gezwungen zu werden, indem wir die Ursachen von Armut und Gewalt bereits an der Wurzel behandeln. Programme wie das von CORDES können dazu beitragen, bei den benachteiligten Jugendlichen Hoffnung und Selbstwertgefühl zu wecken. Wir haben einige Erfolgsgeschichten von jungen Menschen erlebt, die dank Ausbildung und Kleinstunternehmen in der Lage waren, ein Einkommen zu erzielen und völlig unabhängig von ihren Familien zu werden. Sie sind ein Beweis für die bestehenden Möglichkeiten in Chalatenango und ein Vorbild für künftige Generationen.