„Wir wollen nicht in Angst leben", Wandbild in einem kolumbianischen Dorf, Nadine Siegle

Migration gibt es schon seit Anbeginn der Menschheit. Zum einen entfacht sie bei vielen zivilgesellschaftlichen Gruppen Solidarität, doch gleichzeitig führt sie in Aufnahmegesellschaften auch oft zu sozialer Ausgrenzung, Rassismus und Migrationsfeindlichkeit. In Kolumbien sind Letztere während der anhaltenden COVID-19-Pandemie in den Vordergrund gerückt. Im Rahmen einer Interview-Reihe mit Akteur_innen aus Venezuela, Kolumbien und der Schweiz, haben wir über dominante Narrative und Bilder in Bezug auf Migration in Kolumbien und speziell zur Einwanderung aus Venezuela gesprochen.

In den vergangenen Jahrzehnten flohen viele Menschen aus Kolumbien – Hauptgrund dafür war der bewaffnete Konflikt im Land. Viele Menschen suchten Zuflucht im Nachbarland Venezuela. In den letzten Jahren drehte sich allerdings Situation um: Die immer schlechter werdenden Lebensumstände in ihrem Land, veranlasste viele Venezolaner_innen ihre Heimat zu verlassen, und Kolumbien ist dabei zum Hauptziel geworden. Aktuell befindet Kolumbien also nicht nur inmitten eines Übergangsprozesses zur Beendigung des langjährigen bewaffneten Konflikts und zur Förderung des Friedens, sondern sieht sich gleichzeitig einem neuen Migrationsphänomen gegenüber.

Die meisten Venezolaner_innen in Kolumbien leben von der informellen Wirtschaft, da sie meist ohne Papiere und ohne Geldmittel einreisen. Um Miete und Essen bezahlen zu können, werden der Verkauf von Süssigkeiten auf der Strasse, die Vorführung kleiner Kunststücke an Verkehrsampeln oder das Putzen von Autoscheiben zu Vollzeitjobs. Infolge der Ausgangssperre zur Bekämpfung von COVID-19 konnten diese Menschen nicht wie sonst auf die Strasse gehen und Geld verdienen. Sie erhielten auch keine finanzielle Nothilfe von der Regierung, die in Kolumbien nur für Arbeitskräfte im formelle Arbeitsmarkt zugänglich sind. Als Folge davon, gab es keine Mittel mehr, mit denen sie ihr Leben finanzieren konnten und als einzige Möglichkeit blieb die Rückkehr nach Venezuela – und das oft zu Fuss.

Jedoch birgt angesichts der Corona-Pandemie jede Art von Fortbewegung auf der Strasse das Risiko einer Ansteckung und der Verbreitung der Krankheit. Aus Angst vor dieser Möglichkeit erscheinen immer mehr Publikationen in verschiedenen sozialen Netzen. Venezolaner_innen werden darin beschuldigt, der kolumbianischen Bevölkerung die Arbeit wegzunehmen, die Löhne zu drücken und schuld an der ansteigenden Kriminalität in städtischen Gebieten zu sein. Aufgrund dieser falschen Gerüchte erfahren Einzelpersonen und Gruppen, die sich in einer heiklen Lage befinden, immer weniger Solidarität und Hilfsbereitschaft und davon sind nicht nur Venezolaner_innen betroffen. Kolumbien ist immer noch eines der Länder mit der grössten Ungleichheit auf dem amerikanischen Kontinent und den meisten Binnenvertriebenen weltweit. Es gibt einige unterstützende Massnahmen für verschiedene Bevölkerungsgruppen in Kolumbien, doch das Thema ist heikel geworden. Es bestehen zahlreiche administrative Hürden und Gesetze existieren meist nur auf Papier.

Mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hat die kolumbianische Regierung die Chance, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Jahrzehnte der Gewalt und des bewaffneten Konflikts haben zur sozialen Zersplitterung der kolumbianischen Gesellschaft geführt – eine Überwindung dieser Kluften ist aber möglich durch sozioökonomische Massnahmen in Abstimmung auf die Bedürfnisse aller Menschen in Kolumbien sowie durch Programme und Gesetze zur Bekämpfung von Hassreden, Rassismus und Migrationsfeindlichkeit. Allerdings könnte COVID-19 zur Verschärfung der sozialen Spaltung und der tiefgreifenden Ungleichheit in Kolumbien beitragen und so den Übergang von alten Mustern der Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Gewalt hin zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden im Land behindern.

 

Sie möchten noch mehr zu diesem Thema erfahren? In der neuen Folge des Podcasts KOFF Ton-Trägers hören Sie mehr! In dieser Folge kommen verschiedene Stimmen zum Thema Narrative in Bezug auf Migration aus Venezuela und deren Zusammenhänge mit dem Konflikt und dem Frieden in Kolumbien zu Wort.