Geflüchtete Rohingya, Bangladesh, Arpil 2019, Helvetas

Männer und Frauen fliehen sowohl vor Konflikten und Gewalt als auch vor Armut. Nach Angaben der ILO (2018) gehören Ungleichheit und Konflikte zu den Hauptursachen für die Zunahme der internationalen Migration in den letzten Jahren. Die akademische Literatur weist darauf hin, dass von kriminellen Akteuren verursachte Gewalt und Unsicherheit ebenso treibende Kräfte sind wie Krieg und Terror. All diese Phänomene sind gleichermassen komplex, wenn es um Entwicklung und humanitäre Arbeit geht. Das Verlassen des Heimatlandes kann eine Bewältigungsstrategie sein, oder eine Antwort auf Gewalt und Konflikt. Zugleich kann Mobilität aber auch den sozialen Zusammenhalt beeinträchtigen. Vertriebene Menschen – meist aufgrund von bewaffneten Konflikten, allgemeiner Gewalt oder plötzlichen und langsam einsetzenden Katastrophen – sind oft auf Hilfe angewiesen, ohne an ihrem vorübergehenden Aufenthaltsort Perspektiven zu haben. Dadurch werden in vielen Fällen bestehende soziale und wirtschaftliche Machtverhältnisse verändert. Darüber hinaus sind Männer und Frauen unterwegs häufig von Gewalt betroffen und ihre Erfahrungen – von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen oder kriminellen Netzwerken geschmuggelt oder verschleppt zu werden; oder Erpressung, Zwangsarbeit, sexueller Ausbeutung und der Sklaverei ähnlichen Praktiken ausgesetzt zu sein – sind meist genauso von Gewalt überschattet, wie die Situation in ihren Ländern, aus der sie ursprünglich geflohen sind. Die Projekte, welche Helvetas im Bereich der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit durchführt, setzen sich in vielfältiger Weise mit der wechselseitigen Beziehung zwischen Migration und Konflikt auseinander.

Indem Helvetas zum Beispiel den Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen fördert und die wirtschaftlichen Möglichkeiten verbessert, spricht die NGO indirekt viele Migrationstreiber an. Darüber hinaus ist es Helvetas gelungen, durch den Fokus auf gemeindebasierte Friedensförderung und sozialen Zusammenhalt Spannungen abzubauen. Es ist jedoch schwer zu messen, inwieweit diese Interventionen die Wahlmöglichkeiten der Menschen in Bezug auf das Bleiben oder die Migration erweitern.

Äthiopien ist das grösste Aufnahmeland von geflüchteten Menschen in Afrika. Es beherbergt über 1,5 Millionen Vertriebene, darunter Menschen aus 20 verschiedenen Nationen (hauptsächlich aus dem Südsudan, Somalia, Eritrea und Sudan). Die als einzigartig geltende Politik der offenen Tür der äthiopischen Regierung gegenüber Migrant_innen ermöglicht es, dauerhafte Lösungen zu diskutieren und erlaubt den geflüchteten und intern vertriebenen Menschen eine gewisse Handlungsfreiheit sowie die Teilnahme an Versöhnungsbemühungen (siehe ODI). Häufig wird ein friedliches Zusammenleben durch eine gemeinsame Ethnie und Sprache erleichtert, wie im Fall der eritreischen Geflüchteten in Äthiopien. Trotzdem bleibt die Umsetzung dieser Politik der offenen Tür eine Herausforderung, da Binnenvertriebene in allen wichtigen Bereichen des öffentlichen Dienstes tendenziell unterversorgt sind, was ihr Vertrauen in die Regierung des Gastlandes untergräbt und ihre Beteiligung und ihren Beitrag zu einer neuen Realität behindert (siehe: OCHA-Bericht). Damit bleiben Partizipation und institutionelle Vertretungen von Migrant_innen und Geflüchteten die umstrittensten Themen auf der Suche nach einer dauerhaften Lösung. Deshalb unterstützt Helvetas die Anbindung von Geflüchteten/irregulären Migrant_innen an den Markt und Beschäftigungsmöglichkeiten. Helvetas’ Erfahrungen und aktuelle Studien unterstreichen die Notwendigkeit umfassender Beratung und inklusiver Programme zur Herstellung einer Verbindung zwischen Geflüchteten und Aufnahmegemeinschaften (siehe auch 2018, Institute for Security Studies). Sozialer Zusammenhalt gilt als einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für solche Programme. Dies wird auch im untenstehenden Beispiel zu Bangladesch verdeutlicht:

In Bangladesch wurden die Rohingya-Flüchtlinge zunächst von der indigenen muslimischen Bevölkerung in Cox Bazaar, welche selbst einer Minderheit angehört, herzlich willkommen geheissen. In letzter Zeit haben die Herausforderungen für den sozialen Zusammenhalt jedoch erheblich zugenommen, und COVID-19 hat weitere Spannungen geschürt. Frustration in der Gastgemeinde über abnehmende Existenzmöglichkeiten, die inoffizielle Beteiligung der Rohingya an der lokalen Wirtschaft, ein um bis zu 50% gesunkener Durchschnittslohn und Inflation haben zu Spannungen zwischen den Geflüchteten und der Gastgemeinde geführt. Helvetas ist bestrebt, diesen Spannungen entgegenzuwirken und Verbindungen zwischen der Aufnahmegemeinde und den Geflüchteten zu schaffen.

Besonders relevant für die Projekte von Helvetas sind die weniger sichtbaren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Dynamiken zwischen, aber auch innerhalb von sozialen/identitären Gruppen. Beispiele dafür sind Untergruppen und interne Spaltungen innerhalb der Lager sowie zwischen den Aufnahmegemeinschaften. Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts und der partizipativen Prozesse zwischen Aufnahmegemeinschaften, Flüchtlingsgemeinschaften und lokalen Behörden ist dringend notwendig, aber nicht immer einfach und leicht zu finanzieren. Eine grosse Herausforderung stellen auch die zusätzlichen Koordinationsaufgaben zur Verbindung zwischen der humanitären Gemeinschaft, den Lagern und lokalen Regierungsträgern dar; etwa die Bereitstellung von Dienstleistungen, die Verteilung verfügbarer Ressourcen auf der Gemeindeebene, die Ermittlung gemeinsamer Bedürfnisse oder die Arbeit an gemeinsamen Lösungen und die Beilegung kleinerer Streitigkeiten. Oftmals sind alle Akteur_innen, einschliesslich der lokalen Behörden, schlecht auf diese Rolle vorbereitet und verfügen nicht über die entsprechenden Ressourcen. Auch wenn die Unterstützung solcher Massnahmen dazu beitragen würde, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, Konflikte zu verringern und Dialogplattformen für Gastgemeinden, lokale Behörden und Rohingya-Flüchtlinge zu schaffen, werden solche Projekte leider noch immer selten richtig umgesetzt und bleiben oft Pilotprojekte mit unsicherer Anschlussfinanzierung.

Den Konflikt-Migration-Nexus mit all seinen Aspekten und Kontroversen ernst zu nehmen, ist in sich rasch verändernden Situationen eine vielschichtige Aufgabe. Eine zunehmende globale Mobilität, die Verteilung knapper Ressourcen und Dienstleistung unter Beachtung damit verbundener Governance-Systeme sowie zunehmend polarisierte und identitätsbasierte politische Diskurse – all diese Phänomene machen es für die Entwicklungszusammenarbeit notwendig, über die vielschichtige Wechselbeziehung zwischen Migration, Gewalt und Identität(-spolitik) nachzudenken.