N° 174
Februar 2022
Stärkung der Traumabewältigung in Ruanda, 2011. AMI

Als Psychotherapeutin arbeitete ich im Jahre 2011 – siebzehn Jahre nach dem Genozid – in Ruanda im Auftrag von Eirene bei der «Association Modeste et Innocent» (AMI) im Versöhnungsprozess. In Ruanda ist Versöhnung besonders schwierig, weil die ethnischen Kontrahent:innen meist im gleichen Dorf in unmittelbarer Nachbarschaft zusammen leben. Den meisten Ruander:innen fehlt das Wissen über die psychologischen Auswirkungen von Traumata.

Negative Emotionen meiner Gesprächspartner:innen waren allgegenwärtig und stets spürbar in meiner Arbeit. Das waren: Hass, Angst und Misstrauen vor und gegenüber der jeweils anderen Ethnie, Wut über die Straflosigkeit von manchen Schuldigen und eine Unfähigkeit zu Trauer. Hutus litten an Marginalisierung und Diskriminierung, weil ihre Ethnie als Schuldige definiert wurde. Der heutige Regierungspräsident, Paul Kagame, ein Tutsi, hatte 1994 mit seiner Rebellenbewegung den Genozid zu einem Ende gebracht. Er propagiert bis heute eine Politik der Einheit und der Gleichheit, was einerseits Versöhnung fördern und Diskriminierung verhindern soll. Die Art und Weise der Umsetzung verunmöglicht andererseits die Bildung einer politischen Opposition. Denn freie Meinungsäusserung ist nur begrenzt möglich. Die von der Rebellenbewegung der Tutsi begangenen Menschenrechtsverletzungen an den Hutus werden bis heute totgeschwiegen und von den Gerichten nicht behandelt.

Die ruandische Hilfsorganisation AMI arbeitet in diesem fragilen Kontext seit dem Jahr 2000. Auf der Ebene der Gemeinden ist es AMI immer wieder gelungen, die Traumata und die belastenden Emotionen mit Hilfe des sogenannten «approche communautaire» zu bearbeiten. Gemäss diesem Ansatz sollen alle in einer Dorfgemeinschaft zum psychischen Wohlbefinden der Anderen beitragen und Empathie für ihre seelischen Leiden entwickeln.

Wie wichtig ist die Arbeit an den Emotionen beim Aufbau von Frieden?

Nach Gewaltausbrüchen ist in fragilen Kontexten die konsequente Bearbeitung der genannten Emotionen sowohl auf individueller wie auf Gemeindeebene unabdingbare Voraussetzung zum Gelingen eines dauerhaften gewaltfreien Zusammenlebens. Wie führt AMI die Arbeit an den Emotionen durch? Die Bevölkerung wird durch Radiosendungen, Kampagnen und Workshops über die Bedeutung von Gefühlen und über die psychologischen Auswirkungen von Traumata aufgeklärt. Zudem werden negative Emotionen und Vorurteile der verfeindeten Ethnien in freiwilligen Gruppensitzungen bearbeitet.

Regierung und Institutionen verfolgen prioritär eine Stabilitätspolitik. Beide schöpfen leider ihre Möglichkeiten, Friedensakteur:innen zu unterstützen, nicht aus.

Eigene Erfahrungen

Ich führte an dem von AMI betriebenen Beratungsdienst vor allem Einzelgespräche durch. Ausschliesslich Frauen, die Tutsi waren, wollten mit mir sprechen. Kein einziger Mann, keine einzige Frau aus der Gruppe der Hutu hat mich aufgesucht. Das hatte wohl damit zu tun, dass meine Übersetzerin eine Tutsi war und dass ich selbst eine Frau bin, denn Männer sprechen in solchen Kontexten oft nicht mit Frauen über Gefühle. Zudem könnte das auch damit zu tun haben, dass nach dem Genozid sämtliche internationalen Angebote an Tutsi gerichtet waren und die Hutu möglicherweise gar nicht auf die Idee gekommen waren, dass auch sie von meinem Gesprächsangebot profitieren könnten. Da sie als die «Bösen» betrachtet werden, glaubten sie möglicherweise, jedes Recht auf Unterstützung verloren zu haben. Die Klientinnen redeten an erster Stelle über die erlittenen Gräuel während des Genozids, über ermordete Angehörige und über seelische Beschwerden und körperliche Symptome, über Perspektivlosigkeit, über Depression und Apathie. Die Not und das Elend des täglichen Überlebens spielten ebenso eine grosse Rolle. Viele hatten einen ins Leere starrenden erloschenen Blick und wirkten wie psychisch tot. Spüren Betroffene das Interesse der Therapeutin und erfahren über deren Anteilnahme, dann ist es manchmal möglich, sie aus der «Totenstarre» zu wecken und ihnen wieder Selbstachtung zu geben.

Die Regierung organisiert seit 1995 jährlich im April Gedenkwochen an den Genozid. In Radio und Fernsehen gibt es unter freiem Himmel Ansprachen, Veranstaltungen und Vorträge zu Genozid bezogenen Themen. Büros und Geschäfte sind geschlossen, Musik hören ist verboten. Überlebende können in der Öffentlichkeit vor einem Publikum Zeugenaussagen machen. Die Regierung erwartet, dass die Ruander:innen an den Gedenkwochen teilnehmen. Viele fürchten sich vor diesen Wochen, möchten fernbleiben, getrauen sich aber nicht, weil sie Spott und Ausgrenzung befürchten. Viele geraten in dieser Zeit in schwere, seelische Krisen mit wiederkehrenden, intrusiven Bildern oder mit aggressiven Impulsdurchbrüchen, manche sind in Raum und Zeit desorientiert, geraten in einen Zustand, wo sie nicht mehr ansprechbar sind und nicht mehr aufnehmen, was um sie herum passiert. Solche Krisen wären vermeidbar, wenn sie von einer Teilnahme befreit würden. Die erwartete Teilnahme hat so für viele eine schlimme, retraumatisierende Wirkung.

Zu welchem Zeitpunkt im Friedensprozess soll die Bearbeitung von Emotionen auf der individuellen Ebene begonnen werden und zu welchem Zeitpunkt auf der Ebene der Gemeinde?

Auf der individuellen Ebene gibt es in der Traumatherapie keine eindeutige Regel und die Meinungen darüber sind in der Forschung unterschiedlich. Sicher ist: der richtige Zeitpunkt für eine Traumabearbeitung ist bei jeder Person anders. Für eine Person ist schon einige Wochen nach dem Ereignis  eine psychologische Unterstützung sinnvoll und nützlich, für andere wirkt eine verfrühte Therapie retraumatisierend, oft mit verheerenden Auswirkungen.

Auf der Ebene der Gemeinde: Unmittelbar nach dem Genozid war die physische Sicherheit für die Bevölkerung noch nicht garantiert. Rachemorde waren häufig. Die Schuldigen waren noch nicht inhaftiert und die Überlebenden mussten befürchten, ihnen wieder zu begegnen. Da die Emotionen noch frisch und intensiv waren, bestand die Gefahr, dass sie ausagiert werden und wieder gewalttätige Handlungen ausbrechen könnten. Nach Beendigung eines Gewaltkonfliktes sollte man in jedem Fall und unbedingt mit der Bearbeitung der Emotionen erst dann beginnen, wenn die physische Sicherheit der Bevölkerung gewährleistet ist und Institutionen wie Justiz und Polizei wieder einigermassen funktionieren.

Wie sollen im Friedensprozess Emotionen der Betroffenen auf Gemeindeebene besprochen werden?

AMI bearbeitet negative Emotionen und Vorurteile der Betroffenen in gemischt-ethnischen Gruppen. Ziel ist die Reduktion von Angst, von ethnischem Hass, von Zorn und Spannungen. In solchen Gruppen üben die Teilnehmenden gewaltfreie Kommunikation, das heisst Anerkennung der jeweils anderen ethnischen Gruppe als gleichwertige Partner:innen und gegenseitige Perspektivübernahme. Zuerst werden in uni-ethnischen Gruppen Vorurteile, Hass, Misstrauen, Angst und Wut thematisiert. In einem zweiten, entscheidenden Schritt erfolgt eine Begegnung der verfeindeten Gruppen.  Die Konfliktparteien sollen lernen, nach der erlebten Gewalt die jeweilig andere Gruppe wieder als Menschen zu sehen, nachdem ihnen durch Propaganda eingebläut worden war, die Menschen der anderen Ethnie seien «Kakerlaken» und «Ungeziefer». Diese Begegnungen sind heikel und erfordern viel Fingerspitzengefühl, weil die gegenseitigen Kränkungen und Demütigungen heftigen Zorn auslösen können, der manchmal nicht mehr beherrscht werden kann. Die Teilnahme an der Gruppe ist nur sinnvoll, wenn sie freiwillig ist. Bei einer erzwungenen Teilnahme besteht die Gefahr, dass Aggressionen wieder in gewalttätige Handlungen umgesetzt werden. Die Ergebnisse der Arbeit von AMI sind sehr ermutigend. Seitdem AMI diese Arbeit durchführt, sind Rachemorde und Gewalttaten zurück gegangen.

Warum ist die Integration von negativen Emotionen in Friedensprozessen zentral?

Hass, Angst, Rachegefühle, Wut und uneingestandene Schuld wirken zerstörerisch auf den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe. Ohne Bearbeitung und Bewusstmachung von negativen Emotionen und Traumata besteht die Gefahr, dass die unbewussten Emotionen erneut ausbrechen und in gewalttätige Handlungen umgesetzt werden. Unzählige Beispiele in der politischen Geschichte zeigen, dass Verdrängtes und Nicht-Bearbeitetes oft erst nach Jahren oder sogar nach Jahrzehnten wiederkehrt.

Für die Überlebenden ist es zentral, dass die für die Verbrechen Verantwortlichen das begangene Unrecht anerkennen, sich entschuldigen und eine Strafe verbüssen, sodass Gerechtigkeit wieder hergestellt werden kann und die Überlebenden ihren Hass beherrschen lernen. Wie bekannt haben unbearbeitete, unbewusste Traumata meist verheerende Auswirkungen auf die nächste und übernächste Generation.