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Hin zu einem Paradigmenwechsel

Treffen des Frauenschutzteams zur Gemeindesicherheit in Bentiu im Südsudan, 24 Februar 2021. Nonviolent Peaceforce
Nonviolent Peaceforce Huibert Oldenhuis Berater für strategische Programmierung Nonviolent Peaceforce Tiffany Easthom Direktorin

Zunehmend wird anerkannt, dass viele existenzielle Bedrohungen, denen die Welt ausgesetzt ist, in einem mechanistischen Weltbild oder Paradigma wurzeln. Martin Luther King beschrieb dies als “unsere sachorientierte Zivilisation”. Es bedeutet die Trennung von Mensch und Natur, von Menschen untereinander aufgrund unterschiedlicher Klassen, Religionen, Rassen und Geschlechter sowie unseres Selbst von unserem ganzheitlichen, in sich vernetzten Wesen. Die Folge ist, dass wir Arten, Kulturen und Gemeinschaften auswählen, aussortieren und auslöschen. Dies spaltet uns als Gesellschaft und entfremdet uns von unserer Menschlichkeit. Und es entbindet die Mächtigen von den Konsequenzen ihrer Handlungen (Shiva, 2019). Wenn die Welt überleben soll, braucht sie ein anderes Narrativ, das von Wechselwirkung, Sinnhaftigkeit und Suffizienz handelt – einer menschen- und umweltorientierten Zivilisation.

Weltweit setzen sich Befürworter_innen dieser Philosophie für ihre Verbreitung ein. Der Übergang von vergeltender zu wiederherstellender Gerechtigkeit oder von industrieller Landwirtschaft zu Agrarökologie stellt im Wesentlichen eine Abkehr von dieser Trennung hin zu einer Wechselwirkung dar. Auch im Bereich der Sicherheit ist die Zeit für einen solchen Wandel gekommen, denn hier verlassen wir uns allzu sehr auf Mauern und Technologien, die isolieren oder Bedrohungen beseitigen sollen, damit wenige Privilegierte ihre Sicherheit getrennt von einem entmenschlichten Anderen geniessen können.

Da die Praxis des unbewaffneten Schutzes der Zivilbevölkerung (Unarmed Civilian Protection, UCP) zu diesem Wandel beitragen kann, möchten wir sie als anerkanntes Tätigkeitsfeld etablieren, anstatt sie lediglich als Instrumentarium zur Gewaltreduktion anzusehen, das nur wenigen Gruppen nützt. UCP ist ein neue Herangehensweise, die Sicherheit enger mit dem “feindlichen Anderen” verknüpft.

Seit fünf Jahren befasst sich Nonviolent Peaceforce mit der Etablierung von UCP als Tätigkeitsfeld. Im Rahmen von Workshops in Asien, Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten, Nordamerika und Europa haben wir zusammen mit lokalen und internationalen Akteurinnen und Akteuren sowohl aus der Wissenschaft als auch aus der Politik gängige und bewährte Praktiken dieser Arbeit identifiziert und die Anwendung aktiver Gewaltfreiheit zur Konfliktvermeidung und -bewältigung, zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Zivilbevölkerung und als Beitrag zu nachhaltigem Frieden untersucht. Als Gemeinschaft von Praktikerinnen und Praktikern möchten wir nicht nur unser kollektives Wissen erweitern, sondern auch die Wirkung der bereits geleisteten Arbeit und ihr Ausbaupotenzial aufzeigen. Im Laufe des nächsten Jahres wird eine abschliessende Veranstaltungsreihe stattfinden, deren Höhepunkt 2022 eine internationale UCP-Konferenz in Genf bilden wird.

Wir sind uns bewusst, dass eine grundlegende Veränderung nur möglich ist, wenn wir einen Paradigmenwechsel anstossen, mit dem es uns gemeinsam gelingt, Konflikte und Unsicherheiten statt durch den Einsatz von Streitkräften durch gewaltlose, zivile Massnahmen ohne Waffen zu bewältigen. Diese Herausforderung ist nicht unerheblich, denn das vorherrschende Machtverteilungssystem beruht auf Gewaltanwendung zur Erreichung einer Nullsummenlösung. Ein Systemwandel erfordert weit mehr als die reine Umsetzung von Projekten. Wir arbeiten nun daran, UCP in den breiteren Kontext des Bevölkerungsschutzes zu integrieren, um die Stimmen und die Teilhabe derjenigen zu verstärken, die am meisten von Gewaltkonflikten betroffen sind. Auf diese Weise möchten wir ein politisches Umfeld schaffen, das unbewaffnete Reaktionen auf Konflikte oder Unsicherheit priorisiert. Durch Aufklärung der Öffentlichkeit über UCP soll die Praxis für Gemeinschaften, die derzeit in relativem Frieden leben, transformiert werden. Geplant ist auch die Einbindung von UCP in eine Koalition gewaltfreier Bewegungen, beispielsweise für Umweltschutz, wiederherstellende Gerechtigkeit und alternative Ökonomien. Unsere grösste Chance besteht darin, diese voneinander getrennten Bewegungen zu vereinen und daraus eine “Roadmap” zu entwickeln, die eine globale Gemeinschaft dabei anleiten kann, ihren existenziellen Bedrohungen mit Mut und Mitgefühl zu begegnen.

 

Nonviolent Peaceforce Huibert Oldenhuis Berater für strategische Programmierung Nonviolent Peaceforce Tiffany Easthom Direktorin