In den Camps im Distrikt Cox’s Bazar. Foto: SRK, Remo Nägeli
Interview mit Benedikt Kälin Benedikt.Kaelin@redcross.ch Programmverantwortlicher für Bangladesch beim Schweizerischen Roten Kreuz Interviewerin Amélie Lustenberger amelie.lustenberger@swisspeace.ch Communications Officer bei swisspeace

Eine grosse Anzahl von Vertriebenen hat 2017 in Bangladesch Schutz vor der Gewalt in Myanmar gesucht. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) ist seit fast 50 Jahren in Bangladesch tätig und seit 2017 auch in Cox’s Bazar. Benedikt Kaelin, Programmverantwortlicher für Bangladesch beim SRK, erzählt in diesem Interview über das Leben der Menschen in den Camps und gibt eine Einschätzung, wie es für sie weitergehen könnte.

Es ist nun rund zwei Jahre her, dass die Rohingya geflüchtet sind. Wie ist die Situation in den Camps heute?

Aktuell lebt fast eine Million Menschen in den Camps, davon über 700’000 seit den Ereignissen im August 2017. Einige davon waren bereits vor der Flucht 2017 in Bangladesch, die meisten haben sich jedoch später den Camps anschlossen. Die Camps sind riesig und teils findet man fast städtische Verhältnisse vor. Allerdings achtet die Regierung darauf, dass sich keine permanente Infrastruktur entwickelt. Die Leute leben sehr dicht aufeinander – der Wert liegt in Teilen des Lagers etwa bei 10 m2 pro Person (während die humanitären Standards 30 – 45 m2 vorsehen) – und auch die mangelnde Hygiene ist ein Problem.

Grundsätzlich hat sich die Situation im Vergleich zu vor zwei Jahren in vielen Bereichen verbessert, z. B. in der Grund-und Gesundheitsversorgung. Die Regierung hat gemeinsam mit dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR eine halbe Million Menschen mit Flüchtlingspapieren ausgestattet und viele Kinder können zum ersten Mal in ihrem Leben in die Schule. Auch die Strukturen und die Koordination zwischen den verschiedenen humanitären Organisationen haben sich deutlich verbessert.

Was hingegen zu einem immer grösseren Problem wird, sind die fehlenden Zukunftsperspektiven. Die Menschen haben keinen Zugang zum formellen Arbeitsmarkt und sind abhängig von der humanitären Hilfe. In Kombination mit den traumatischen Erlebnissen, welche viele Menschen erlebt haben, führt dies zu immer grösserer Verzweiflung und schädlichen Bewältigungsmechanismen.

Auch die Spannungen innerhalb der Camps und zwischen den Menschen in den Camps und der lokalen Bevölkerung nehmen zu. Für die Camps wurden viele Ressourcen und Land benötigt, die zuvor der lokalen Bevölkerung gehörten und die vielen Menschen treiben die Preise in die Höhe. Als Ende August 2019 ein lokaler Politiker in der Region ermordet wurde, und junge Männer aus den Camps der Tat verdächtigt wurden – führte dies zu wütenden Protesten seitens der Lokalbevölkerung.

Wieso nehmen die Spannungen und die Gewalt gerade jetzt zu, obwohl sich die Bedingungen in den Camps in vielen Bereichen verbessert haben?

In Bezug auf die Gewalt handelt es sich noch immer um Einzelfälle und ich kann bis jetzt kein Muster feststellen, gemäss welchem in den Camps selber die Gewalt zunimmt.  Wenn so viele Leute unter prekären Bedingungen zusammenleben, dann ist eine gewisse Kriminalität und Gewalt aus meiner Sicht fast unvermeidbar. Was aber sicher zunimmt, sind die Spannungen zwischen Lokalbevölkerung und den Camp-Bewohnern.

Gründe dafür sind, dass viele Erwartungen nicht erfüllt wurden und der zuvor angesprochene Mangel an Ressourcen. Hinzukommt, dass diese riesigen Camps die lokale Wirtschaft verzerren und es natürlich auch Leute gibt, die davon profitieren: Ich denke hier z.B. an Hotel- und Transportunternehmen oder auch jene Menschen die bei den internationalen Organisationen eine Arbeit gefunden haben. Dieser verzerrte Markt kombiniert mit der zunehmenden Erkenntnis, dass man sich auf eine länger andauernde Krisensituation einstellen muss, löst teils grossen Frust aus.

Wie nahe lebt die lokale Bevölkerung mit den Camp-Bewohnenden zusammen? Sehen diese sich täglich?

Ja, das ist tatsächlich so, die Menschen treffen sich täglich und leben sehr nahe zusammen. Es gibt zwar Checkpoints am Eingang zu den Camps, doch das Lager ist über ein sehr grosses Gebiet verteilt und dazwischen gibt es immer wieder lokale Gemeinschaften. Diese Begegnungen sind oft durchaus positiv. Die Leute treffen sich am Markt und ein reger Austausch findet statt. Auch die Märkte in den Camps funktionieren immer besser, weil durch diesen Austausch bereits richtige Lieferketten entstanden sind.

Du hast gesagt, die Campbewohnenden dürfen formell nicht arbeiten. Was machen sie den ganzen Tag?

Sie dürfen formell nicht arbeiten aber kleinere Beschäftigungen, die keine grossen Qualifikationen voraussetzen, sind möglich. Dafür werden gewisse Personen auch entschädigt. Einige verdienen Geld durch ihre Arbeit bei den Hilfsorganisationen. Die Leute sind auf der Suche nach solchen Möglichkeiten, insbesondere die Männer und sie leiden darunter, wenn sie nichts tun können. Die Männer halten sich tagsüber oft auf dem Markt auf und suchen nach Einnahmequellen. Frauen bleiben eher in den Unterkünften und kümmern sich um die Familien.

Welche Dienstleistungen bietet das SRK vor Ort an?

Das Schweizerische Rote Kreuz orientiert sich an den bestehenden Bedürfnissen und arbeitet hauptsächlich im Gesundheitsbereich, wo es seine Expertise einbringen kann. Hierbei muss man unterscheiden zwischen seiner Rolle ganz am Anfang, bei der es sich um Nothilfe handelte und der Situation jetzt, welche eine längerfristige Perspektive einnimmt. Anfangs stand der Bau von Latrinen und Brunnen im Fokus und es wurden Hygieneschulungen durchgeführt. 2018 wurden drei multifunktionale Gesundheitszentren gebaut, in denen das SRK seither in Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen gesundheits- und ernährungsbezogene Dienste anbietet, die Zusammenführung von Familien unterstützt und Schutz gewähren kann: Die Schwerpunkte liegen dabei in der Familienplanung, Impfungen und Hygienemassnahmen. Zudem gibt es Angebote zur psychosozialen Unterstützung. Über 200’000 Personen haben bisher von diesen Angeboten Gebrauch gemacht.

Das SRK unterstützt aktuell den Bau von zwei weiteren Gesundheitszentren – und arbeitet dabei eng mit unterschiedlichen Akteuren und dem Gesundheitsministerium zusammen. Die Koordination in den Rotkreuz Gesundheitszentren ist einzigartig, weil alle diese Akteure unter einem Dach arbeiten – NGOs, UN-Organisationen und Ärzte der Regierung. Eine weitere Besonderheit ist, dass unsere Gesundheitszentren aus einem speziellen Baumaterial gefertigt sind: sie sind semi-permanent. Zwar nicht für ein dauerhaftes Bestehen – weil dies die Regierung nicht gutheissen würde – trotzdem aber stabiler als andere Bauten in einem Camp.

In einem der Camps ist das SRK zudem daran ein Abfallentsorgungssystem aufzubauen.

Was sind denn die grössten Herausforderungen bei der Arbeit vor Ort? 

Als Mitglied der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften arbeitet das SRK in seinen Programmländern wenn immer möglich mit den lokalen Rotkreuzgesellschaften zusammen. In Cox’s Bazar handelt es sich dabei um den Roten Halbmond von Bangladesch. Diese Organisation war wie viele andere Organisationen auf die aussergewöhnliche Situation in Cox’s Bazar wenig vorbereitet. Das SRK unterstützt deshalb durch seine Projekte immer auch die Strukturen der Partnerorganisation, was nicht frei von Herausforderungen ist. So kann unsere Partnerorganisation beispielsweise kaum mit den hohen Löhnen mithalten, welche andere Organisationen ihren lokalen Angestellten bezahlen – was es wiederum schwierig macht, gute Leute für die anspruchsvolle Arbeit zu finden.

Eine weitere Schwierigkeit betrifft die Verfügbarkeit der Ärzte und Ärztinnen der Regierung. Insbesondere die Anreise in die Camps kann gerade in der Regensaison mühselig sein und führt des Öftern zu Ausfällen.

Wie gestaltet sich die Arbeit mit der Regierung in Bangladesch?

Die Regierung hat sich mit der Aufnahme der Flüchtlinge sehr grosszügig gezeigt. Das ist sie noch immer und die Zusammenarbeit des SRK mit den Behörden läuft grundsätzlich gut. Konkret konnte beispielsweise vor Kurzem eine Vereinbarung mit dem Gesundheitsministerium unterzeichnet werden, in welcher die involvierten Akteure Rollen und Verantwortlichkeiten definieren und sich zu einer konstruktiven Zusammenarbeit verpflichten.

Die Herausforderungen für Bangladesch als Aufnahmeland sind jedoch enorm. Bangladesch ist dicht besiedelt und hat mit seinen 160 Mio. Einwohnern selber grosse Bedürfnisse – die Situation in den Flüchtlingscamps ist eine zusätzliche Last.

Eine permanente Ansiedlung der Flüchtlinge in Cox’s Bazar ist für die Regierung keine Option – sie plant deshalb, die Geflüchteten auf eine entlegene Insel umzusiedeln. Ein Projekt das langsam Form annimmt. Allerdings könnte wohl nur ein Teil der Flüchtlinge umgesiedelt werden – ca. 150’000 Personen. Gemäss der Regierung sollen in erster Linie jene Menschen umgesiedelt werden, die dem Risiko von Naturkatastrophen besonders ausgesetzt sind.

Kannst du mehr über diese Naturkatastrophen sagen? Wie real ist diese Bedrohung?

Bangladesch ist ein Land, das wiederkehrend von Naturkatastrophen heimgesucht wird. In erster Linie gehört hierzu der Monsun, der auch dieses Jahr grossen Schaden angerichtet hat. Von April bis September gab es Überschwemmungen in den Camps, dies führte dazu, dass der Zugang zu Dienstleistungen erschwert, rund 15’000 Personen umquartiert und Unterkünfte beschädigt oder zerstört wurden. Die Siedlungen sind an Hängen gebaut und können leicht abrutschen. Innerhalb der Camps ist dieses Jahr zum Glück niemand gestorben. Dies hängt unter anderem mit den guten Schutzmassnahmen zusammen.

Auf kleinere Ereignisse sind die Camps gut vorbereitet. Würde aber beispielsweise ein Zyklon auf die Gegend treffen, hätte dies unabsehbare Folgen.

Was bringt die Zukunft?

Es gibt grundsätzlich drei Szenarien: Eine Rückführung der Menschen nach Myanmar, eine Umsiedelung oder eine langfristige Ansiedelung und Integration in Cox’s Bazar. Letzteres Szenario scheint für die Regierung wie schon gesagt keine Option.

In Bezug auf die Rückführung sind Gespräche im Gange, doch sind die Positionen der involvierten Länder und der Vereinten Nationen diesbezüglich sehr unterschiedlich und es haben sich bislang keine Geflüchteten freiwillig zu einer Rückkehr bereit erklärt. Auch müssen die Sicherheit sowie die Lebensbedingungen in Myanmar auf einem gewissen Niveau gewährleistet sein.

Dann bleibt noch die Umsiedelung innerhalb von Bangladesch: Es könnte sein, dass vielleicht tatsächlich 150’000 Leute umgesiedelt werden, doch das wäre noch immer erst ein kleiner Teil der Menschen. Was mit dem Rest geschieht, wäre folglich weiterhin offen.

Interview mit Benedikt Kälin Benedikt.Kaelin@redcross.ch Programmverantwortlicher für Bangladesch beim Schweizerischen Roten Kreuz Interviewerin Amélie Lustenberger amelie.lustenberger@swisspeace.ch Communications Officer bei swisspeace