Die Nutzung des Mekongs ist ein berühmtes Beispiel grenzübergreifender und sehr komplexer Nachhaltigkeitskonflikte. Foto: Creative Commons

Blickt man aus einer Friedensperspektive auf die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele, sticht selbstverständlich das Ziel 16 ins Auge:

“Friedliche und inklusive Gesellschaften für eine nachhaltige Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und leistungsfähige, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen”

Am diesjährigen High Level Political Forum steht das Ziel 16 neben fünf weiteren Zielen im Fokus. Grund genug, einen vertieften Blick auf Frieden und die Agenda 2030 zu werfen.

Seit Januar 2019 ist das Büro der Koordinationsstelle der Plattform Agenda 2030 und somit mein Büro bei swisspeace angesiedelt. Aus dieser Erfahrung erschlossen sich mir zwei ganz zentrale Schnittpunkte zwischen der Agenda 2030 und der Friedensarbeit.

Erstens: Ein holistischer Friedensansatz und ein holistischer Nachhaltigkeitsansatz bedingen sich gegenseitig. Vereinfacht: Die Agenda 2030 lässt sich nicht ohne das Ziel 16 denken und das Ziel 16 lässt sich nicht ohne einen Grossteil der Ziele der Agenda 2030 denken.

Zweitens: In der Agenda 2030 gibt es Zielkonflikte. Die Friedensarbeit kann einen methodischen Mehrwert für die Lösung der inhärenten Zielkonflikte der Agenda 2030 bringen.

Ein holistischer Ansatz

Zum ersten Punkt: Johan Galtung – eine Koryphäe der Peace Studies – hat das Konzept des “Positive Peace” geprägt. Er zeigt auf, dass Frieden viel mehr ist als die Absenz von direkter Gewalt.  Er unterscheidet zwischen zwei Friedensdefinitionen: “positivem” und “negativem Frieden”. Negativer Frieden konzentriert sich auf die Abwesenheit direkter Gewalt, positiver Frieden zusätzlich auf die Abwesenheit von struktureller und kultureller Gewalt. Er spricht damit die vielen gesellschaftlichen Faktoren an, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen und fördern. Positiver Frieden ist als ganzheitlicher Ansatz zu betrachten. Frieden kann nicht isoliert gedacht werden.

Nimmt man eine Perspektive des positiven Friedens ein, wird einmal mehr klar, wie wichtig die Agenda 2030 als Ganzes ist. Das Ziel 16 und seine zwölf Unterziele beziehen zwar schon ein relativ breites Spektrum an Faktoren ein, aber erst in Zusammenhang mit den anderen Zielen nähern wir uns einer ganzheitlichen Betrachtung. So beinhaltet das Ziel 16 unter anderem die Bekämpfung von Korruption sowie unlauterer und illegaler Finanz- und Waffenflüsse, dass alle eine rechtliche Identität benötigen oder den stärkeren Einbezug von Entwicklungsländern in den globalen Institutionen. Ein zentrales Element der Agenda 2030 sind aber auch die wechselwirkenden Interaktionen zwischen den Zielen. Beispiele für Ziele, die eine klare Verbindung zu Frieden, Konflikten und Gewalt haben, sind das Ziel 5 zu Geschlechtergerechtigkeit, das Ziel 10 zu Ungleichheit oder auch das Ziel 15 zu Landökosystemen. Gleichzeitig verunmöglichen Konflikte und Gewalt die Erreichung dieser Ziele.

Aus Schweizer Perspektive ist das Ziel 17.14 besonders hervorzuheben: Politikkohärenz für Nachhaltige Entwicklung. Hinter diesem technisch anmutenden Begriff versteckt sich das Anliegen, Widersprüche der Politik zugunsten der Nachhaltigen Entwicklung aufzulösen.  Ein Beispiel: Es kann im Sinne der Nachhaltigen Entwicklung kaum zielführend sein, Waffen in Länder zu exportieren, die in Konflikte involviert sind.

Die Zielkonflikte

Die Agenda 2030 ist ein Etappensieg. 17 Ziele und 169 ausgehandelte, vergleichsweise konkrete Unterziele in einem Dokument. Obwohl die Ziele nicht bindend sind, stehen sie für eine erfolgreiche Zusammenarbeit der momentan viel kritisierten UNO. Leider bleibt ein langjähriger Kritikpunkt an der Nachhaltigen Entwicklung bestehen: Zielkonflikte der Nachhaltigen Entwicklung würden nicht (genug) thematisiert und gelöst. Das führt zum zweiten der genannten Punkte:  Was wenn sich Ziele widersprechen? Welche Ziele respektive welche Interessen haben welche Priorität? Das Problem ist so alt wie die Diskussion um Nachhaltige Entwicklung in der UNO.

Die erste UN Umweltkonferenz hat 1972 in Stockholm stattgefunden. Maurice Strong, der den Vorsitz innehatte, erzählte der BBC 2011, dass sich die Entwicklungsländer überlegten, die Konferenz zu boykottieren. Ihre Sorge war, dass die Umweltthematik den Fokus von ihren Problemen wie Armutsbekämpfung und Entwicklung nehmen würde. Das Problem ist alles andere als neu.

Der International Science Council hat 316 Interaktionen untersucht. Er hat sich dabei auf die Ziele 2 – kein Hunger; 3 – Gesundheit und Wohlergehen; 7 – bezahlbare und saubere Energie und 14 – Leben unter Wasser konzentriert. Von den 216 untersuchten Interaktionen sind 238 positiv, 12 neutral und 66 negativ. Bei den negativen Interaktionen kommt es somit zu sogenannten «Trade-offs». Das Wort macht klar, dass es hier abzuwägen gilt. Ein Beispiel aus der genannten Studie:

Die Ziele 14.2 und 14.5, die den Schutz von Küstengebieten verlangen, können mit wirtschaftlichen Aktivitäten, Wachstum und der Anzahl an Jobs, wie sie in den Zielen 8.1. und 8.3 gefordert werden, in Konkurrenz treten. Hier gilt es, Lösungen zu finden und Interessen abzuwägen.

Eine Wertediskussion

Das sind gesamtgesellschaftliche Wertediskussionen. Es gilt abzuwägen, was wichtig ist, und wer welche Interessen hat. Die Klimastreiks haben zudem erneut auf die Dringlichkeit aufmerksam gemacht, die Interessen der jungen Generation einzubeziehen. Dazu kommt die Herausforderung, die Interessen von zukünftigen Generationen einfliessen zu lassen. Darüber hinaus stellen gewisse Kreise die Frage, ob nicht die Natur einen intrinsischen Wert und somit Rechte hat? Wesentlich ist – natürlich genauso für die Gegenwart – einer der Leitsätze der Agenda: dass niemand zurückgelassen werden soll (leave no one behind). Verschiedene Gemeinschaften und Interessensvertreter_innen haben zudem sehr unterschiedliche Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen und sich durchzusetzen. Die Machtfrage ist zentral.

Diese Interessensabwägungen und Wertediskussionen müssen möglichst gut und fair fazilitiert werden. Welchen Wert will die Weltgesellschaft einer intakten Natur beimessen? Welchen Entscheidungsspielraum sollten zukünftige Generationen haben? Welche Institutionen brauchen wir, um diese Fragen langfristig angehen zu können? Die Schweiz hat nun ein Direktorenkomitee eingesetzt, welches die relevanten Bundesämter versammeln und sich unter der Leitung von zwei Delegierten der nachhaltigen Entwicklung annehmen soll –  wie es scheint ohne nennenswerte zusätzliche Ressourcen. Kann ein solches Gremium mutige Entscheidungen treffen? Was für Ressourcen und Kompetenzen würde es dafür brauchen, wo stehen diese im Widerspruch mit unserer etablierten Verwaltungsstruktur?

Es bringt wenig, die Augen vor den Trade-offs und Interessensabwägungen zu verschliessen.  Wie werden Diskussionen geführt?  Welche Elemente sind wichtig? Wer sind die Interessens-/Konfliktparteien? Und welche Prozesse führen zu fairen und repräsentativen Lösungen?

Im Versuch, diese Konflikte zu lösen, kann die Friedensperspektive und die Erfahrungen der Friedensarbeit weit über das Ziel 16 hinaus einen grossen Mehrwert einbringen. Dies mit ihrer Erfahrung im Mapping der Konfliktparteien, dem konfliktsensiblen Ansatz und holistischen und langfristigen Ansätzen der Konfliktlösung.